Katze sprang noch im selben Augenblick auf und rannte über die steilen Dächer davon. Da er taubstumm war, hatte er keine Möglichkeit, die Verteidiger unten in den Straßen zu warnen, und bis er den Leuten auf den Dächern klargemacht hätte, was er wollte, wäre es zu spät. Also mußte er allein handeln. Leise bezog er über den Soldaten Position, während sie den Zusammenbau der tragbaren Kanone beendeten und die Zielerfassungsrechner hochfuhren. Sie hatten ihre Vorbereitungen bereits fast abgeschlossen, und Katze hatte nicht die leiseste Idee, wie er sie aufhalten konnte. Wenn er Steine oder andere Gegenstände auf sie schleuderte, würde er sie nur ablenken, und falls sie Disruptoren besaßen, würden sie ihn rasch vom Dach geschossen haben. Falls er auf sie heruntersprang, würde das Überraschungsmoment vielleicht reichen, einen oder zwei zu überwältigen, aber der Rest würde ihn zweifelsohne niederstrecken.
Auf der Suche nach Inspiration blickte sich Katze verzweifelt auf dem Dach um. Seine Augen leuchteten auf, als er einen schiefen Schornstein nicht weit vom Rand des Dachs entfernt entdeckte. Er ragte über die Dachkante hinaus, und ein verirrter Energiestrahl hatte eine Ecke herausgebrannt . Er sah aus, als genüge ein leichter Stoß, um ihn auf die Straße stürzen zu lassen. Katze überprüfte noch einmal die Position der Soldaten und ihrer Kanone. Genau unter dem Schornstein . Perfekt. Katze grinste und stemmte die Schulter gegen die Ziegel. Er druckte mit aller Kraft, doch der Schornstein gab nicht einen Millimeter nach. Er versuchte es erneut, diesmal mit Anlauf, und seine Füße rutschten auf dem schlüpfrigen Dach aus. Mit einemmal umgab ihn dichter schwarzer Rauch. Der Wind hatte gedreht. Katze ging in die Knie und hustete krampfhaft. Er rang nach Luft. Der Rauch war von glühender Asche durchsetzt, und Katze zog die Kapuze seines weißen Thermoanzugs über den Kopf, damit kein Funke in seine Haare kam. Unten auf der Straße war die Kanone inzwischen beinahe feuerbereit .
Voll stiller Wut lehnte Katze sich mit dem Rücken gegen den Schornstein, stemmte die Stiefel gegen die stabilsten Dachziegel und spannte sich mit all seiner Kraft. Hinter ihm gab das Gemäuer widerstrebend nach. Katzes Gesicht war schmerzverzerrt, während er sämtliche Energie in Beinen und Rücken freisetzte. Der Schmerz wurde stärker, und der Schornstein wollte immer noch nicht kippen. Katzes Herz drohte, ihm in der Brust zu zerspringen, und Schweiß strömte ihm übers Gesicht… und plötzlich brach der gemauerte Kamin ab und fiel. Es geschah ohne jede Vorwarnung. Im einen Augenblick nichts, und im nächsten schon ein lautes Krachen von brechenden Ziegeln und Mörtel, und der ganze verdammte Schornstein fiel in die Tiefe und riß Katze mit hinab.
Während des Sturzes drehte sich Katze reflexhaft, und suchte nach Vorsprüngen, an denen er sich festhalten konnte. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die erschrockenen Gesichter der Geschützmannschaft, die zu ihm hinaufschauten. Dann krachten die Ziegel wie ein Hammer auf sie hernieder, und sie wurden unter den Trümmern begraben.
Katzes suchende Hände fanden eine hölzerne Fensterlade, und es gelang ihm, sich daran festzuhalten. Einen Augenblick lang hing er mit seinem gesamten Körpergewicht an einer einzigen Hand, doch dann riß ihn der Schwung seines Sturzes herum, und es war ein leichtes für ihn, durch das offene Fenster in den darunterliegenden Raum zu segeln. Katze rollte sich auf dem Boden ab und krachte gegen die hintere Wand, wo er liegenblieb, bis er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.
Nachdem sein Puls sich wieder ein wenig beruhigt hatte, beschloß Katze, daß es an der Zeit war, in den Schwarzdorn und seine Sicherheit zurückzukehren. Er wollte nicht, daß Cyder sich seinetwegen Sorgen machte.
Alter Streit und alte Zwistigkeiten waren vergessen, als die Rebellen sich draußen in den Straßen Nebelhafens einem gemeinsamen Feind entgegenstellten. Eingeschworene Todfeinde kämpften Seite an Seite und hielten sich gegenseitig die Rük-ken frei. Es schien, als wäre inzwischen jeder, der auch nur halbwegs laufen und eine Waffe halten konnte, in den Straßen, um eine Stadt zu verteidigen, deren Bedeutung den Rebellen erst klargeworden war, nachdem man sie ihnen zu nehmen drohte. Selbst Owens Feinde aus dem ehemaligen Spionagenetz der Todtsteltzers leisteten ihren Beitrag, wie sich herausstellte. Zwar waren sie Geschäftsmänner, keine Krieger, aber ohne Waffengewalt und Entschlossenheit wären sie nicht zu dem geworden, was sie heute waren. Und vielleicht erinnerten sie sich auch an die idealistischen jungen Männer, die sie einst gewesen waren. Vielleicht regten sich in ihnen längst vergessen geglaubte Ideale.
Neeson der Bankier und Robbins der Immobilienhai kämpften Seite an Seite, und ihre Schwerter blitzten, als sie sich wieder an ihr altes Geschick im Umgang mit Waffen erinnerten.
Stacey der Rechtsanwalt kämpfte mit einem eleganten Rapier, und Conelly und McGowan von den Docks hackten mit Äxten eine blutigen Schneise durch die Feinde. Sie alle kämpften gut und tapfer und für Männer ihres Alters und in ihren behaglichen Stellungen mit überraschendem Erfolg.
»Verdammt, das tut vielleicht gut!« bemerkte Robbins in einer ruhigen Phase zwischen den Kämpfen. »Ich fühle mich wieder wie in alten Zeiten, als wir noch jung waren und die Welt verändern und das Imperium stürzen wollten. Und all das völlig gratis!«
Robbins lachte. »Das waren glückliche Zeiten. Alles war so einfach. Ich hatte sowieso schon angefangen , mich in meinem Beruf als Geschäftsmann zu langweilen.«
Die Schwarzdorn-Taverne war ein lodernder Trümmerhaufen.
Das obere Stockwerk ein flammendes Inferno , das Dach verschwunden, verschlungen von Feuer und Rauch, die in den Nachthimmel stoben. Drei Antigravbarken schwebten über der Taverne, und ihre Disruptorstrahlen hämmerten immer und immer wieder auf den Schwarzdorn herab. Flammen leckten über die Außenmauern, und große Risse taten sich auf. Im Innern herrschte nichts als Chaos, Panik und Rauch.
Johana Wahn stand mitten im ehemaligen Schankraum und hatte die Arme ausgebreitet wie eine Gekreuzigte. Ihre mentalen Kräfte waren das einzige, was die tödlichen Disruptorstrahlen aufhielt. Blut rann in stetigem Strom aus ihrem Mund, ihrer Nase und ihren Ohren. Ihr Gesicht war totenbleich, und ihre wilden Augen blickten in eine unendliche Ferne. Johana starb, und jeder ringsum wußte es. Sie war der einzige Schutz, den die Gäste des S chwar z dorn noch hatten, und die Anstrengung ließ sie Stück um Stück sterben.
Donald Royal hatte die wenigen Überlebenden in Gruppen eingeteilt, die mit Decken und Wassereimern bewaffnet jeden Brand im Keim erstickten, der im Schankraum auszubrechen drohte. Der Notfall hatte dem alten Mann neue Kräfte verliehen, und er wuselte herum wie jemand, der nicht halb so alt war wie er. Ratsmitglied McVey hatte Chances Kinder zu einer kleinen Gruppe versammelt, die sich von den Wänden der Taverne fernhielt . Donald Royals Partnerin Madeleine Skye stand im Eingang und hielt einen Disruptor in der Hand. Imperiale Truppen hatten längst die Tür aus den Angeln geschossen und versuchten seit einiger Zeit, Granaten durch die so entstandene Lücke zu schleudern. Skye hatte die erste rechtzeitig gesehen und sie im gleichen Augenblick wieder hinausgeworfen, da sie gelandet war. Anschließend hatte sie an der Tür Posten bezogen, um jeden zu entmutigen, der das gleiche noch einmal versuchen wollte .
Draußen auf der anderen Straßenseite beobachtete eine größere Gruppe von Marineinfanteristen geduldig den Eingang.
Sie waren bereit, sich um jeden zu kümmern, der herauszukommen wagte. Keiner der Angreifer war daran interessiert, Gefangene unter den Gästen des Schwarzdorns zu machen.
Hinter der Theke wurde Cyder nach und nach ziemlich betrunken. Ihre Taverne war nur noch ein Trümmerhaufen; sie saß in einem brennenden Haus in der Falle, und Katze war nirgends zu sehen. Sie hoffte nur, daß er in Sicherheit war, doch insgeheim zweifelte sie daran. Katze hätte schon längst wieder zurück sein müssen. Wahrscheinlich war er in einen Kampf geraten… Sie hatte ihm immer und immer wieder gesagt, daß er sich in nichts hineinziehen lassen sollte… Cyder schenkte sich einen weiteren Drink ein.