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»In Ordnung«, sage ich. »Ich kann einem von den Kapitolleuten Bescheid sagen, damit er euch hilft.« Im Zug gibt es jede Menge davon. Sie kochen für uns. Sie bedienen uns. Sie bewachen uns. Es ist ihre Aufgabe, sich um uns zu kümmern.

»Nein. Ich will keinen von denen«, sagt Peeta.

Ich nicke und gehe in mein Abteil. Ich kann verstehen, wie Peeta fühlt. Ich kann den Anblick der Kapitolleute auch nicht ertragen. Aber wir könnten uns ein bisschen rächen, wenn wir ihnen Haymitch aufs Auge drücken würden. Deshalb grübele ich darüber nach, weshalb Peeta darauf besteht, sich persönlich um Haymitch zu kümmern, und plötzlich denke ich: Weil er ein guter Mensch ist. Genau wie damals, als er mir das Brot geschenkt hat.

Der Gedanke lässt mich erstarren. Ein guter Peeta Mellark ist für mich sehr viel gefährlicher als ein böser. Gute Menschen haben es an sich, dass sie sich bei mir einschleichen und einnisten. Das darf ich bei Peeta nicht zulassen. Nicht angesichts dessen, was uns bevorsteht. Ich beschließe, dem Bäckersohn ab sofort möglichst aus dem Weg zu gehen.

Als ich zurück in mein Abteil komme, legt der Zug einen Tankstopp ein. Schnell öffne ich das Fenster, werfe die Plätzchen, die Peetas Vater mir geschenkt hat, hinaus und knalle das Fenster zu. Schluss damit. Schluss mit den beiden.

Zu meinem Unglück zerplatzt die Schachtel mit den Plätzchen mitten in einer Ansammlung von Löwenzahn an den Gleisen. Nur ganz kurz sehe ich das Bild, denn der Zug setzt sich wieder in Bewegung, aber das genügt. Es genügt, um mich an den anderen Löwenzahn vor vielen Jahren auf dem Schulhof zu erinnern …

Ich hatte den Blick gerade von Peeta Mellarks zerschundenem Gesicht gewandt, als ich den Löwenzahn sah und plötzlich wusste, dass noch nicht alle Hoffnung verloren war. Vorsichtig pflückte ich ihn und lief nach Hause. Ich schnappte mir einen Eimer, nahm Prim bei der Hand und lief mit ihr zur Weide, wo es von dem gelbköpfigen Kraut nur so wimmelte. Nachdem wir es dort geerntet hatten, folgten wir dem Zaun noch über einen Kilometer, bis wir den Eimer mit Blättern, Stängeln und Blüten vom Löwenzahn gefüllt hatten. An diesem Abend stopften wir uns mit Löwenzahnsalat und dem Rest des Bäckerbrots voll.

»Was noch?«, fragte Prim. »Können wir noch etwas finden, das man essen kann?«

»Alles Mögliche«, versprach ich ihr. »Ich muss mich nur daran erinnern.«

Meine Mutter hatte aus der Apotheke ihrer Eltern ein altes Buch mitgebracht, mit Tintenzeichnungen von Pflanzen auf Pergamentseiten. In akkurater Handschrift wurden daneben die Namen, Fundstellen, Blütezeiten und medizinischen Verwendungsmöglichkeiten jeder einzelnen Pflanze angegeben. Mein Vater hatte eigene Anmerkungen hinzugefügt. Pflanzen zum Essen, nicht zum Heilen. Löwenzahn, Kermesbeeren, wilde Zwiebeln, Kiefern. Den Rest der Nacht grübelten Prim und ich über dem Buch.

Am nächsten Tag gingen wir nicht in die Schule. Eine Zeit lang beschränkten wir uns auf die Weide, aber schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und kroch unter dem Zaun hindurch.

Es war das erste Mal, dass ich allein dort war, ohne dass die Waffen meines Vaters mich beschützten. Doch in einem hohlen Baum fand ich den kleinen Bogen und die Pfeile, die er für mich gemacht hatte. An diesem Tag habe ich mich wahrscheinlich kaum zwanzig Meter in den Wald hineingewagt. Die meiste Zeit saß ich hoch oben im Geäst einer alten Eiche und hoffte darauf, dass Wild vorbeikam. Nach mehreren Stunden hatte ich großes Glück und erwischte ein Kaninchen. Ich hatte schon einige Kaninchen geschossen, früher, unter Anleitung meines Vaters. Aber dieses hier hatte ich ganz allein erlegt.

Seit Monaten hatten wir kein Fleisch mehr gegessen. Der Anblick des Kaninchens schien in meiner Mutter etwas wachzurütteln. Sie raffte sich auf, zog dem Tier das Fell ab und bereitete aus dem Fleisch und Kräutern, die Prim gesammelt hatte, einen Eintopf. Dann wirkte sie verwirrt und ging zu Bett, aber als der Eintopf fertig war, nötigten wir sie, eine Schale davon zu essen.

Der Wald wurde unser Retter und jeden Tag ging ich ein wenig tiefer hinein. Anfangs war es mühsam, aber ich war entschlossen, uns zu ernähren. Ich stahl Eier aus Nestern, fing Fische in Netzen, konnte manchmal ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen für den Eintopf schießen und sammelte die verschiedenen Pflanzen, die zu meinen Füßen aus dem Boden kamen. Mit Pflanzen ist das so eine Sache. Viele sind essbar, aber ein Bissen von der falschen Pflanze und man ist tot. Immer wieder verglich ich die Pflanzen, die ich erntete, mit den Abbildungen meines Vaters. Ich sorgte dafür, dass wir überlebten.

Anfangs floh ich beim leisesten Anzeichen von Gefahr, einem fernen Geheul, dem unerklärlichen Knacken eines Asts, zurück zum Zaun. Irgendwann wagte ich es, auf Bäume zu klettern, um den wilden Hunden zu entkommen; dann wurde es ihnen schnell langweilig und sie trabten weiter. Tiefer im Waldesinnern lebten Bären und Raubkatzen, die den rußigen Gestank unseres Distrikts vielleicht nicht mochten.

Am 8. Mai jenes Jahres ging ich ins Gerichtsgebäude, trug mich für meine Tesserasteine ein und zog meine erste Ladung Getreide und Öl in Prims Bollerwagen nach Hause. An jedem Achten eines Monats durfte ich wiederkommen. Natürlich konnte ich deshalb nicht aufhören, zu jagen und zu sammeln. Das Getreide reichte nicht zum Überleben und wir mussten ja auch noch andere Sachen kaufen, Seife und Milch und Garn. Was wir nicht auf andere Weise beschaffen konnten, tauschte ich auf dem Hob ein. Es war beängstigend, diesen Ort ohne meinen Vater an meiner Seite zu betreten, aber die Leute hatten ihn respektiert, also respektierten sie auch mich. Wild war Wild, egal, wer es geschossen hatte. Ich verkaufte auch an den Hintertüren der wohlhabenderen Kunden in der Stadt, wobei ich versuchte, mich daran zu erinnern, was mein Vater mir beigebracht hatte, und auch neue Tricks lernte. Der Metzger kaufte Kaninchen, aber keine Eichhörnchen. Der Bäcker mochte Eichhörnchen, nahm aber nur dann eins, wenn seine Frau nicht in der Nähe war. Der Oberste Friedenswächter liebte Truthahn. Der Bürgermeister aß für sein Leben gern Erdbeeren.

Eines Tages im Spätsommer spülte ich Geschirr in einem Tümpel, als mir die Pflanzen auffielen, die um mich herum wuchsen. Große Pflanzen mit Blättern wie Pfeilspitzen. Blüten mit drei weißen Blütenblättern. Ich kniete mich im Wasser hin, fuhr mit den Fingern in den weichen Schlamm und zog eine Handvoll Wurzeln heraus. Kleine bläuliche Knollen, die nicht viel hermachen, gekocht oder gebraten aber so gut schmecken wie Kartoffeln. »Katniss«, sagte ich laut. Katniss, Pfeilkraut - die Pflanze, nach der ich benannt bin. Ich hatte die Stimme meines Vaters im Ohr, wie er im Spaß sagte: »Solange du dich selbst findest, wirst du niemals hungern.« Stundenlang wühlte ich den Grund des Tümpels mit meinen Zehen und einem Stock auf und sammelte die Knollen ein, die an die Oberfläche geschwemmt wurden. An diesem Abend schwelgten wir in Fisch und Pfeilkrautknollen, bis wir alle, zum ersten Mal seit Monaten, satt waren.

Langsam kehrte meine Mutter zu uns zurück. Sie begann zu putzen und zu kochen und etwas von dem Essen, das ich mitbrachte, für den Winter einzumachen. Die Leute tauschten mit uns oder bezahlten sie für ihre Arzneien mit Geld. Eines Tages hörte ich meine Mutter singen.

Prim freute sich wahnsinnig, sie wiederzuhaben, ich jedoch blieb auf der Hut und rechnete ständig damit, dass sie wieder unerreichbar würde. Ich traute ihr nicht. Und ein kleiner, grimmiger Teil von mir hasste sie für ihre Schwäche, für die Vernachlässigung, für die Monate, als sie uns im Stich gelassen hatte. Prim verzieh ihr, aber ich hatte mich von meiner Mutter entfernt und eine Mauer errichtet, um mich davor zu schützen, dass ich sie brauchte. Zwischen uns wurde es nie mehr so wie vorher.