Выбрать главу

»Hallo, Kätzchen«, sagt Gale. Eigentlich heiße ich Katniss, aber damals, als ich ihm zum ersten Mal meinen Namen sagte, habe ich ihn nur geflüstert. Und er hat Kätzchen verstanden. Als dann diese verrückte Wildkatze begann, mir in der Hoffnung auf Almosen durch den Wald zu folgen, wurde es Gales offizieller Spitzname für mich. Die Wildkatze musste ich schließlich töten, weil sie das Wild vertrieb. Ich bereute es fast, denn sie war keine schlechte Gesellschaft. Aber für ihr Fell habe ich einen guten Preis erzielt.

»Schau, was ich geschossen habe«, sagt Gale und hält einen Laib Brot in die Höhe, in dem ein Pfeil steckt, und ich muss lachen. Es ist echtes Brot aus der Bäckerei, keins von den flachen, festen Broten, die wir aus unseren Getreiderationen backen. Ich nehme es in die Hände, ziehe den Pfeil heraus und halte die Einstichstelle an meine Nase. Ich sauge den Duft ein und merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Feines Brot wie dieses gibt es nur zu besonderen Anlässen.

»Mmmh, noch warm«, sage ich. Er muss schon bei Tagesanbruch in der Bäckerei gewesen sein, um es zu tauschen. »Was hat dich das gekostet?«

»Nur ein Eichhörnchen. Ich glaub, der alte Mann war heute Morgen ein bisschen sentimental«, sagt Gale. »Er hat mir sogar Glück gewünscht.«

»Tja, heute rücken wir alle ein bisschen enger zusammen, nicht wahr?«, sage ich und verdrehe nicht einmal die Augen dabei. »Prim hat einen Käse für uns übrig gelassen.« Ich ziehe ihn hervor.

Als er die Leckerei sieht, hellt sich Gales Miene auf. »Danke, Prim. Das wird ein richtiges Festessen.« Plötzlich fällt er in den Kapitolakzent und macht Effie Trinket nach, die wahnsinnig gut gelaunte Frau, die jedes Jahr zur Ernte angereist kommt und die Namen verliest. »Fast hätte ich es vergessen! Fröhliche Hungerspiele!« Er zupft ein paar Brombeeren von den Büschen um uns herum. »Und möge das Glück …«Er wirft eine Brombeere in hohem Bogen in meine Richtung.

Ich fange sie mit dem Mund auf und lasse die feine Haut zwischen den Zähnen zerplatzen. Sofort breitet sich der süßsaure Geschmack auf meiner Zunge aus. »… stets mit euch sein!«, beende ich den Satz ebenso schwungvoll. Wir müssen uns darüber lustig machen; die Alternative wäre, vor Angst zu sterben.

Außerdem ist der Kapitolakzent so gekünstelt, dass fast alles, was man darin sagt, lustig klingt.

Ich sehe zu, wie Gale sein Messer herauszieht und das Brot in Scheiben schneidet. Er könnte mein Bruder sein. Glattes schwarzes Haar, olivenfarbene Haut, sogar unsere Augen sind ähnlich. Aber wir sind nicht verwandt, zumindest nicht nah. Die meisten Familien, die in den Minen arbeiten, sehen so aus.

Deshalb wirken meine Mutter und Prim mit ihrem blonden Haar und den blauen Augen immer so fremd hier. Was sie auch sind. Die Verwandten meiner Mutter gehörten zu der kleinen Gruppe von Kaufleuten, die die Beamten, Friedenswächter und gelegentlichen Gäste im Saum versorgt. Sie führten eine Apotheke im hübscheren Teil von Distrikt 12. Da sich so gut wie niemand einen Arzt leisten kann, sind die Apotheker unsere Heiler. Mein Vater lernte meine Mutter kennen, weil er auf der Jagd manchmal Heilkräuter sammelte und sie ihnen verkaufte, damit sie daraus Arzneien herstellen konnten. Sie muss ihn sehr geliebt haben, sonst hätte sie ihr Zuhause nicht für den Saum verlassen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wenn ich mal wieder nur die Frau sehe, die einfach nur dasaß, während ihre Kinder bis auf die Knochen abmagerten. Um meines Vaters willen versuche ich ihr zu vergeben. Aber ehrlich gesagt, ich bin nicht gut im Vergeben.

Gale bestreicht die Brotscheiben mit dem weichen Ziegenkäse und garniert sie sorgfältig mit einem Basilikumblatt, während ich Beeren pflücke. Wir machen es uns in einer Felsnische gemütlich. Dort sind wir unsichtbar und haben doch freie Sicht auf das Tal, das nur so strotzt von sommerlichem Leben: Gemüse, das man ernten, Wurzeln, die man ausgraben kann, Fische, die im Sonnenlicht schillern. Ein herrlicher Tag, blauer Himmel und ein leichter Wind. Das Essen schmeckt köstlich, der Käse versickert in dem warmen Brot, die Beeren zerplatzen uns im Mund. Es wäre vollkommen, wenn das hier wirklich ein Feiertag wäre, wenn der liebe lange Tag nur dazu da wäre, mit Gale durch die Berge zu wandern und fürs Abendessen zu jagen. Stattdessen müssen wir um zwei auf dem Platz stehen und darauf warten, dass die Namen aufgerufen werden.

»Wir könnten es tun, weißt du«, sagt Gale ruhig.

»Was?«, frage ich.

»Den Distrikt verlassen. Davonlaufen. Im Wald leben. Wir beide könnten es schaffen, du und ich zusammen«, sagt Gale.

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Die Idee ist so absurd.

»Wenn wir nicht so viele Kinder hätten«, fügt er rasch hinzu.

Er meint natürlich nicht unsere Kinder. Obwohl sie es sein könnten. Gales kleine Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester. Prim. Unsere Mütter könnte man getrost auch dazurechnen, denn wovon sollten sie ohne uns leben? Wer würde diese Münder stopfen, die nach immer mehr verlangen? Wir gehen beide jeden Tag auf die Jagd, und dann sind da auch noch die Abende, an denen Wild gegen Schmalz oder Schnürsenkel oder Wolle eingetauscht werden muss und an denen wir trotzdem noch mit knurrendem Magen ins Bett gehen.

»Ich will nie Kinder haben«, sage ich.

»Ich eigentlich schon. Wenn ich nicht hier leben würde«, sagt Gale.

»Du lebst aber hier«, sage ich gereizt.

»Vergiss es«, sagt er schroff.

Das Gespräch fühlt sich ganz falsch an. Weglaufen? Wie könnte ich Prim verlassen, die Einzige auf der Welt, von der ich genau weiß, dass ich sie liebe? Und Gale hängt auch sehr an seiner Familie. Wir können nicht weg. Weshalb also darüber reden? Und selbst wenn … selbst wenn … Wieso reden wir auf einmal davon, Kinder zu haben? Romantische Gefühle waren zwischen Gale und mir noch nie ein Thema. Als wir uns kennenlernten, war ich eine spindeldürre Zwölfjährige, und obwohl er nur zwei Jahre älter war, sah er schon aus wie ein Mann. Es hat lange gedauert, bis wir überhaupt Freunde wurden, uns nicht mehr über jeden Tausch in die Haare kriegten und einander halfen.

Außerdem wird Gale, wenn er Kinder haben will, mühelos eine Frau finden. Er sieht gut aus, er ist stark genug für die Arbeit in den Minen und er ist ein guter Jäger. An der Art, wie die Mädchen über ihn tuscheln, wenn er in der Schule an ihnen vorbeigeht, kann man erkennen, dass sie ihn begehren. Das macht mich eifersüchtig, aber nicht aus dem Grund, den man vielleicht annehmen könnte. Es ist schwer, einen guten Jagdgefährten zu finden.

»Was sollen wir machen?«, frage ich. »Wir können jagen, angeln oder sammeln gehen.«

»Lass uns am See angeln. Wir können die Angelruten auslegen und im Wald sammeln gehen. Irgendwas Schönes für heute Abend«, sagt er.

Heute Abend. Nach der Ernte sollen alle feiern. Viele Leute tun das auch, aus Erleichterung darüber, dass ihre Kinder ein weiteres Jahr verschont geblieben sind. Aber mindestens zwei Familien werden die Fensterläden zumachen, die Türen verschließen und sich fragen, wie sie die leidvollen Wochen überleben sollen, die auf sie zukommen.

Wir haben Glück. An einem Tag wie diesem, da leichtere, wohlschmeckendere Beute im Überfluss vorhanden ist, beachten uns die Raubtiere nicht. Am späten Vormittag haben wir ein Dutzend Fische, einen Beutel Gemüse und - das Beste von allem - einen Eimer voll Erdbeeren. Das Erdbeerfeld habe ich vor zwei Jahren entdeckt, aber die Idee, ein Netz gegen die Tiere aufzuspannen, stammt von Gale.

Auf dem Heimweg machen wir einen Abstecher auf den Hob, der in einem verlassenen Lagerhaus abgehalten wird, wo früher Kohle aufbewahrt wurde. Als sie ein effizienteres System einführten, das die Kohle direkt von den Minen zu den Zügen transportiert, hat sich nach und nach der Schwarzmarkt hier breitgemacht. Die meisten Geschäfte sind am Erntetag um diese Uhrzeit schon geschlossen, doch auf dem Hob herrscht immer noch ein ziemlicher Betrieb. Mühelos tauschen wir sechs der Fische gegen gutes Brot und zwei weitere gegen Salz. Greasy Sae, die knochendürre alte Frau, die aus einem großen Kessel schalenweise heiße Suppe verkauft, nimmt uns die Hälfte des Gemüses ab und gibt uns dafür ein paar Brocken Paraffin. Anderswo könnten wir vielleicht ein bisschen mehr rausschlagen, aber wir bemühen uns um ein gutes Verhältnis zu Greasy Sae. Sie ist die Einzige, die uns regelmäßig wilden Hund abkauft. Wir jagen die Hunde nicht absichtlich, doch wenn man angegriffen wird und dabei einen oder zwei erwischt - nun ja, Fleisch ist Fleisch. »In meiner Suppe wird’s zu Rindfleisch«, sagt Greasy Sae augenzwinkernd. Niemand im Saum würde eine ordentliche Keule vom wilden Hund verschmähen, doch die Friedenswächter, die in den Hob kommen, können es sich leisten, etwas wählerischer zu sein.