»Aber das wird nicht passieren! Du wirst irgendwo hoch oben in einem Baum leben, rohe Eichhörnchen essen und die Leute mit Pfeilen ins Visier nehmen. Weißt du was? Als meine Mutter sich von mir verabschieden kam, sagte sie, wie um mich aufzumuntern, dass Distrikt 12 vielleicht endlich mal wieder einen Gewinner stellen wird. Erst später begriff ich, dass sie nicht mich gemeint hat - sie meinte dich!«, platzt Peeta heraus.
»Nein, sie meinte dich«, sage ich abwehrend.
»Sie hat gesagt: >Die wird Überleben! Die!<«, sagt Peeta.
Ich verstumme. Hat seine Mutter das wirklich über mich gesagt? Hat sie mich über ihrem Sohn eingestuft? Ich sehe die Kränkung in Peetas Blick und weiß, dass er nicht lügt.
Plötzlich bin ich wieder hinter der Bäckerei und kann die Kälte des Regens spüren, der über meinen Rücken rinnt, das Loch in meinem Bauch. Als ich wieder etwas sage, klinge ich wie eine Elfjährige: »Aber nur, weil jemand mir geholfen hat.«
Peetas Blick geht schnell zu dem Brötchen in meinen Händen und ich weiß, dass er sich auch an jenen Tag erinnert. Aber er zuckt nur die Achseln. »Die Leute werden dir in der Arena helfen. Sie werden sich überschlagen, um dich zu sponsern.«
»Nicht mehr als dich«, sage ich.
Peeta verdreht die Augen in Haymitchs Richtung. »Sie hat keine Ahnung, was für eine Ausstrahlung sie haben kann.« Sein Finger fährt an der Holzmaserung des Tisches entlang, während er meinem Blick ausweicht.
Was in aller Welt soll das bedeuten? Die Leute werden mir helfen? Als wir fast verhungert sind, hat mir keiner geholfen! Keiner außer Peeta. Erst als ich etwas zum Tauschen hatte, hat sich die Lage verändert. Ich bin hart im Handeln. Oder doch nicht? Was für eine Ausstrahlung habe ich? Wirke ich schwach und hilfsbedürftig? Will er damit andeuten, dass ich gute Geschäfte gemacht habe, weil die Leute Mitleid mit mir hatten? Ich versuche darüber nachzudenken, ob das stimmt. Sicher, ein paar Kaufleute waren vielleicht ein bisschen großzügig, aber das habe ich immer ihren langjährigen Beziehungen zu meinem Vater zugeschrieben. Und mein Wild ist erstklassig. Niemand hatte Mitleid mit mir!
Finster blicke ich auf das Brötchen. Ich bin mir sicher, dass er mich kränken wollte.
Nach einer Weile sagt Haymitch: »Tja, also. Tja, tja, tja. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass es in der Arena Pfeil und Bogen geben wird, Katniss. Aber während deiner Einzelsitzung mit den Spielmachern solltest du ihnen zeigen, was du kannst. Bis dahin halte dich vom Bogenschießen fern. Bist du gut im Fallenstellen?«
»Ich kenne ein paar einfache Schlingen«, murmele ich.
»Das kann wichtig sein, um Essen zu beschaffen«, sagt Haymitch. »Und sie hat recht, Peeta, unterschätze niemals die Körperkraft in der Arena. Physische Kraft gibt sehr oft den Ausschlag für den einen oder anderen Spieler. Im Trainingscenter haben sie Gewichte, aber zeig vor den anderen Tributen nicht, wie viel du heben kannst. Der Plan ist für euch beide der gleiche. Ihr geht zum Gruppentraining. Eignet euch dort etwas an, das ihr noch nicht beherrscht. Einen Speer werfen. Eine Keule schwingen. Einen anständigen Knoten binden. Nur nicht zeigen, was ihr am besten könnt, bis zu den Einzelstunden. Habe ich mich klar ausgedrückt?«, fragt Haymitch.
Peeta und ich nicken.
»Noch ein Letztes. Ich möchte, dass ihr in der Öffentlichkeit die ganze Zeit beisammen seid«, sagt Haymitch. Wir wollen beide protestieren, aber Haymitch haut mit der Hand auf den Tisch. »Die ganze Zeit! Keine Diskussion! Ihr habt euch bereit erklärt zu tun, was ich sage! Ihr werdet zusammen sein und ihr werdet freundlich miteinander umgehen. Und jetzt raus hier. Um zehn erwartet euch Effie zum Training am Aufzug.«
Ich beiße mir auf die Lippe, gehe zurück in mein Zimmer und achte darauf, dass Peeta hört, wie ich die Tür zuschlage. Ich setze mich aufs Bett. Ich hasse Haymitch, ich hasse Peeta, ich hasse mich selbst dafür, dass ich diesen Tag im Regen vor so langer Zeit erwähnt habe.
Das ist doch ein Witz! Dass Peeta und ich so tun, als ob wir Freunde wären! Die Stärken des anderen anpreisen, ihn dazu bringen, dass er sich seiner Fähigkeiten bewusst wird. Und irgendwann müssen wir dann Schluss damit machen und akzeptieren, dass wir erbitterte Feinde sind. Was ich gern jetzt gleich erledigen würde, wäre da nicht Haymitchs dämliche Anweisung, dass wir beim Training zusammenbleiben sollen. Daran bin ich wohl selber schuld, weil ich ihm gesagt habe, er müsse uns nicht getrennt trainieren. Aber das sollte doch nicht heißen, dass ich alles mit Peeta zusammen machen will. Der sich übrigens eindeutig auch nicht mit mir zusammentun möchte.
Ich höre Peetas Stimme in meinem Kopf. Sie hat keine Ahnung, was für eine Ausstrahlung sie haben kann. Damit wollte er mich ganz offensichtlich erniedrigen. Oder? Doch ein kleiner Teil von mir fragt sich, ob es nicht vielleicht ein Kompliment sein sollte. Dass er meinte, ich sei irgendwie attraktiv. Eigenartig, dass ich ihm so aufgefallen bin. Dass er mich als Jägerin bemerkt hat. Umgekehrt war er mir anscheinend auch nicht so gleichgültig, wie ich gedacht hatte. Das Mehl. Das Ringen. Ich habe den Jungen mit dem Brot all die Jahre im Auge behalten.
Es ist fast zehn. Ich putze mir die Zähne und kämme mich noch einmal. Meine Wut hat die Nervosität vor der Begegnung mit den anderen Tributen kurzzeitig verdrängt, doch jetzt spüre ich, wie die Angst wieder hochkommt. Als ich am Aufzug zu Effie und Peeta stoße, ertappe ich mich beim Nägelkauen. Ich lasse es sofort sein.
Die eigentlichen Trainingsräume befinden sich im Untergeschoss unseres Gebäudes. Mit diesen Aufzügen dauert es weniger als eine Minute. Die Türen öffnen sich auf eine riesige Turnhalle mit verschiedenen Waffen und Hindernisparcours. Obwohl es noch nicht ganz zehn Uhr ist, sind wir die Letzten. Die anderen Tribute sitzen in einem engen Kreis zusammen. Alle haben ein Stück Stoff mit ihrer Distriktnummer an der Kleidung festgesteckt. Während jemand mir die Nummer 12 an den Rücken heftet, schaue ich mich rasch um. Peeta und ich sind die Einzigen, die gleich angezogen sind.
Sobald wir uns in den Kreis begeben, tritt die Cheftrainerin, eine große, athletische Frau namens Atala, vor und beginnt den Trainingsplan zu erläutern. Bei jeder Station stehen Fachleute für die jeweilige Disziplin bereit. Wir können frei von einer Station zur nächsten wechseln, wie Haymitch es uns aufgetragen hat. An manchen Stationen werden Überlebensstrategien unterrichtet, an anderen Kampftechniken. Es ist uns verboten, mit anderen Tributen Kampfübungen zu machen. Wenn wir mit einem Partner trainieren möchten, stehen Assistenten bereit.
Als Atala die Liste der einzelnen Stationen verliest, schaue ich unwillkürlich zu den anderen Tributen. Es ist das erste Mal, dass wir alle so zusammensitzen, auf dem Boden, in einfacher Kleidung. Das Herz rutscht mir in die Hose. Fast alle Jungs und mindestens die Hälfte der Mädchen sind größer als ich, obwohl viele der Tribute nie ausreichend zu essen bekommen haben. Man sieht es an ihren Knochen, ihrer Haut, den tief in den Höhlen liegenden Augen. Ich mag von Natur aus kleiner sein, aber alles in allem hat der Einfallsreichtum meiner Familie mir in dieser Hinsicht einen Vorteil verschafft. Ich halte mich aufrecht, und so dünn ich bin, ich bin auch stark. Fleisch und Pflanzen aus dem Wald in Verbindung mit der Anstrengung, die es brauchte, sie zu beschaffen, haben mir zu einem vergleichsweise gesunden Körper verholfen.
Die Ausnahme bilden die Kinder aus den wohlhabenderen Distrikten, die Freiwilligen, die ihr Leben lang auf diesen Augenblick hin ernährt und ausgebildet worden sind. Die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 sehen für gewöhnlich so aus. Eigentlich verstößt es gegen die Spielregeln, Tribute vorab zu trainieren, aber es passiert jedes Jahr aufs Neue. In Distrikt 12 nennen wir sie Karrieretribute oder einfach nur Karrieros. Und höchstwahrscheinlich wird einer von ihnen der Sieger sein.