»Wieder Flammen?«, frage ich.
»So was in der Art«, sagt er verschmitzt.
Peeta und ich beglückwünschen einander, noch ein heikler Moment. Wir haben uns beide wacker geschlagen, aber was bedeutet das für den anderen? So schnell wie möglich flüchte ich in mein Zimmer und vergrabe mich unter der Decke. Der Stress dieses Tages, besonders das Weinen, hat mich ausgelaugt. Ich schlafe ein, für den Augenblick befreit, erleichtert und mit dem Bild einer leuchtenden Elf hinter den Lidern.
Am nächsten Morgen bleibe ich noch eine Weile liegen und sehe zu, wie die Sonne einen schönen Tag einläutet. Es ist Sonntag. Zu Hause ein freier Tag. Ich frage mich, ob Gale jetzt wohl im Wald ist. Normalerweise nutzen wir den Sonntag, um für die Woche vorzusorgen. Früh aufstehen, jagen und sammeln, dann auf dem Hob handeln. Ich denke an Gale und wie er ohne mich zurechtkommt. Wir hätten jeder allein jagen können, aber im Team waren wir besser. Besonders wenn wir größerer Beute nachstellten. Aber auch in den kleineren Dingen nahmen wir uns gegenseitig alle Last ab und so machte die anstrengende Aufgabe, meine Familie zu ernähren, oft sogar Spaß.
Als ich Gale zum ersten Mal im Wald begegnete, hatte ich mich schon etwa ein halbes Jahr auf eigene Faust durchgeschlagen. Es war ein Sonntag im Oktober, es war kühl und roch beißend nach Fäulnis und Tod. Morgens hatte ich den Eichhörnchen die Nüsse streitig gemacht und am Nachmittag, als es etwas wärmer wurde, watete ich durch flache Tümpel und erntete Pfeilkrautknollen. Das einzige Fleisch, das ich erbeutet hatte, war ein Eichhörnchen, das mir auf der Suche nach Eicheln praktisch vor die Füße gelaufen war, aber Tiere würden sich auch noch zeigen, wenn meine anderen Nahrungsquellen unter Schnee begraben wären. Ich war tiefer in den Wald vorgedrungen als sonst und beeilte mich nun, mitsamt meinen Jutesäcken nach Hause zu kommen, als ich fast in einen toten Hasen hineinlief. Er hing mit dem Genick in einer dünnen Drahtschlinge, einen knappen halben Meter über meinem Kopf. Fünfzehn Meter weiter baumelte noch einer. Ich erkannte die Schwippgalgenfallen, weil mein Vater auch solche benutzt hat. Wenn die Beute in die Falle tappt, wird sie in die Luft gerissen, außer Reichweite anderer hungriger Tiere. Ich hatte den ganzen Sommer über versucht, Fallen zu stellen, aber erfolglos. Deshalb konnte ich einfach nicht anders, ich ließ meine Säcke fallen und untersuchte diese hier. Ich fingerte gerade an dem Draht über einem der Hasen, als eine Stimme erschallte: »Das ist gefährlich.«
Ich sprang ein paar Meter zurück, als Gale hinter einem Baum auftauchte. Er musste mich die ganze Zeit über beobachtet haben. Er war erst vierzehn, aber eins achtzig groß und kam mir vor wie ein Erwachsener. Ich hatte ihn schon ein paarmal im Saum und in der Schule gesehen. Und noch einmal. Sein Vater war bei derselben Explosion ums Leben gekommen wie meiner. Im Januar war ich dabei, wie Gale im Gerichtsgebäude seine Tapferkeitsmedaille überreicht bekam, noch ein ältestes Kind ohne Vater. Ich erinnere mich an seine beiden kleinen Brüder, die sich an die Mutter klammerten, eine Frau, deren dicker Bauch ankündigte, dass sie in wenigen Tagen erneut niederkommen würde. »Wie heißt du?«, fragte er, während er näher kam und den Hasen aus der Falle löste. Drei weitere hingen an seinem Gürtel.
»Katniss«, sagte ich kaum hörbar.
»Also, Kätzchen, Diebstahl wird mit dem Tod bestraft, wusstest du das nicht?«, fragte er.
»Katniss«, sagte ich, diesmal lauter. »Ich wollte ihn gar nicht stehlen. Ich wollte mir nur deine Falle ansehen. Mit meinen fange ich nie was.«
Er sah mich finster an, nicht überzeugt. »Und wo hast du das Eichhörnchen her?«
»Geschossen.« Ich nahm den Bogen von der Schulter. Ich benutzte immer noch die kleine Version, die mein Vater für mich gemacht hatte, aber ab und zu hatte ich schon mit dem großen geübt. Im Frühjahr, so hoffte ich, würde ich größeres Wild erlegen können.
Gales Blick haftete an dem Bogen. »Darf ich mal sehen?«
Ich gab ihn ihm. »Aber denk dran, Diebstahl wird mit dem Tod bestraft.«
Das war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah. Er war nicht länger bedrohlich, sondern jemand, den man kennenlernen wollte. Doch es dauerte mehrere Monate, bis ich das Lächeln erwiderte.
Wir unterhielten uns übers Jagen. Ich sagte, ich könnte ihm vielleicht einen Bogen besorgen, wenn er etwas zum Tausch hätte. Nicht Essen. Ich wollte Wissen. Ich wollte selbst Fallen stellen können, die an nur einem Tag für einen Gürtel voll fetter Hasen sorgten. Er sagte, dass sich da was machen lasse. Im Lauf der Jahreszeiten teilten wir widerstrebend unser Wissen, unsere Waffen, unsere geheimen Orte, wo es jede Menge wilde Pflaumen oder Truthähne gab. Er lehrte mich Fallenstellen und Fischen. Ich zeigte ihm, welche Pflanzen man essen konnte, und gab ihm irgendwann einen unserer wertvollen Bogen. Und ohne dass einer von uns darüber gesprochen hätte, wurden wir eines Tages ein Team. Teilten Arbeit und Beute. Damit unsere beiden Familien zu essen hatten.
Gale gab mir ein Gefühl der Sicherheit, wie ich es seit dem Tod meines Vaters nicht gekannt hatte. Seine Kameradschaft trat an die Stelle der langen einsamen Stunden im Wald. Seit ich nicht mehr dauernd über die Schulter schauen musste, seit jemand mir Rückendeckung gab, konnte ich viel besser jagen. Aber Gale wurde viel mehr als mein Jagdgefährte. Er wurde mein Vertrauter, jemand, mit dem ich Gedanken teilte, die ich innerhalb des Zauns nie aussprechen konnte. Und er vertraute mir seine an. Mit Gale draußen im Wald … da war ich manchmal richtig glücklich.
Ich nenne ihn meinen Freund, doch im Lauf des letzten Jahres ist dieses Wort zu beliebig für das geworden, was Gale mir bedeutet. Plötzlich spüre ich eine stechende Sehnsucht in der Brust. Wenn er jetzt doch hier bei mir wäre! Aber natürlich will ich das nicht. Ich möchte nicht, dass er in der Arena ist, wo er in ein paar Tagen tot wäre. Aber … aber ich vermisse ihn sehr. Und ich hasse es, allein zu sein. Ob er mich auch vermisst? Bestimmt.
Ich denke an die Elf, die gestern Abend unter meinem Namen aufgeleuchtet ist. Ich weiß genau, was er sagen würde. »Na, da ist aber noch Luft nach oben.« Und dann würde er mich anlächeln und jetzt würde ich ohne Zögern zurücklächeln.
Ich kann nicht anders, ich muss das, was zwischen Gale und mir ist, mit dem vergleichen, was vermeintlich zwischen Peeta und mir ist. Über Gales Beweggründe mache ich mir nie Gedanken, während ich bei Peeta alles infrage stelle. Aber das ist kein besonders fairer Vergleich. Gale und ich haben uns zusammengetan, weil wir beide überleben mussten. Peeta und ich wissen, dass das Überleben des anderen den eigenen Tod bedeutet. Wie soll man das beiseiteschieben?
Effie klopft an die Tür und erinnert mich daran, dass ein weiterer »ganz, ganz großer Tag!« bevorsteht. Morgen Abend werden wir im Fernsehen interviewt. Das ganze Team wird alle Hände voll zu tun haben, um uns darauf vorzubereiten.
Ich stehe auf und dusche schnell, wobei ich diesmal mit mehr Bedacht auf die Knöpfe drücke, und gehe ins Esszimmer. Peeta, Effie und Haymitch drängen sich bereits um den Tisch und tuscheln. Das kommt mir eigenartig vor, aber der Hunger siegt über die Neugier und ich lade erst mal meinen Frühstücksteller voll, bevor ich mich zu ihnen setze.
Der Eintopf besteht heute aus Lammstücken und Backpflaumen. Perfekt auf einem Bett aus Wildreis. Ich habe mich schon halb durchgearbeitet, als mir auffällt, dass niemand etwas sagt. Ich trinke einen großen Schluck Orangensaft und wische mir den Mund ab. »Was ist los? Heute steht unser Coaching für die Interviews an, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagt Haymitch.
»Ihr müsst nicht auf mich warten. Ich kann gleichzeitig essen und zuhören«, sage ich.
»Hm, die Pläne haben sich geändert. Was unsere gegenwärtige Methode angeht, meine ich«, sagt Haymitch.