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An diesem Abend esse ich in meinem Zimmer und bestelle mir eine unverschämte Menge Delikatessen. Ich überfresse mich daran und dann lasse ich meine Wut auf Haymitch, die Hungerspiele und überhaupt jedes Lebewesen im Kapitol raus, indem ich mit Geschirr um mich werfe. Als das Mädchen mit den roten Haaren hereinkommt, um mein Bett aufzuschlagen, und das Durcheinander sieht, werden ihre Augen groß. »Lass!«, schreie ich sie an. »Lass es, wie es ist!«

Sie hasse ich auch, sie mit den wissenden, vorwurfsvollen Augen, die mich Feigling, Monster, Marionette des Kapitals nennen, damals wie heute. Aus ihrer Sicht nimmt die Gerechtigkeit jetzt endlich ihren Lauf. Wenigstens wird mein Tod das Leben des Jungen im Wald ein wenig aufwiegen.

Aber anstatt aus dem Raum zu flüchten, schließt das Mädchen die Tür hinter sich und geht ins Bad. Sie kommt mit einem feuchten Lappen zurück und wischt mir sanft über das Gesicht. Dann wischt sie das Blut von meinen Händen, das von einem zerbrochenen Teller stammt. Warum tut sie das? Warum lasse ich das zu?

»Ich hätte versuchen müssen, euch zu retten«, flüstere ich.

Sie schüttelt den Kopf. Soll das heißen, wir haben gut daran getan, nur zuzuschauen? Dass sie mir vergeben hat?

»Nein, es war falsch«, sage ich.

Sie tippt sich mit dem Finger auf die Lippen und deutet dann auf meine Brust. Ich glaube, sie meint, dass ich dann auch als Avox geendet wäre. Höchstwahrscheinlich. Ein Avox oder tot.

In der folgenden Stunde helfe ich dem rothaarigen Mädchen, das Zimmer sauber zu machen. Als der ganze Müll beseitigt und das Essen aufgewischt ist, schlägt sie mein Bett auf. Ich krieche hinein wie ein fünfjähriges Kind und lasse mich von ihr zudecken. Dann geht sie. Ich möchte, dass sie dableibt, bis ich eingeschlafen bin. Dass sie da ist, wenn ich aufwache. Ich möchte den Schutz dieses Mädchens, obwohl sie meinen nie hatte.

Am nächsten Morgen ist es nicht das Mädchen, das sich über mich beugt, sondern die Mitglieder meines Vorbereitungsteams. Meine Stunden mit Effie und Haymitch sind Vergangenheit. Dieser Tag gehört Cinna. Er ist meine letzte Hoffnung. Vielleicht kann er mich so schön aussehen lassen, dass niemand darauf achtet, was aus meinem Mund kommt.

Bis in den späten Nachmittag arbeitet das Team an mir, verwandelt meine Haut in leuchtenden Satin, zeichnet Muster auf meine Arme, malt Flammenmotive auf meine zwanzig perfekt gefeilten Nägel. Dann nimmt sich Venia mein Haar vor, flicht rote Strähnen zu einem Muster, das an meinem linken Ohr beginnt, sich um meinen Kopf wickelt und dann in einem Zopf über meine rechte Schulter fällt. Sie überdecken mein Gesicht mit einer Schicht aus blassem Make-up und arbeiten meine Gesichtszüge dann wieder heraus. Riesige dunkle Augen, volle rote Lippen. Wimpern, die Funken sprühen, wenn ich blinzele. Schließlich bedecken sie meinen ganzen Körper mit einem Puder, der mich golden schimmern lässt.

Anschließend kommt Cinna mit etwas herein, das wohl mein Abendkleid ist, aber ich kann es nicht richtig sehen, weil es verhüllt ist. »Mach die Augen zu«, befiehlt er.

Ich fühle das Seidenfutter, als sie mir das Kleid über den nackten Körper streifen, und dann das Gewicht. Es muss zwanzig Kilo wiegen. Ich greife nach Octavias Hand, während ich blind in meine Schuhe steige, wobei ich erleichtert feststelle, dass sie mindestens fünf Zentimeter niedriger sind als das Paar, mit dem ich geübt habe. Jemand richtet und zupft herum. Dann Stille.

»Darf ich jetzt gucken?«, frage ich.

»Ja«, sagt Cinna. »Du darfst.«

Das Geschöpf, das vor mir in dem mannshohen Spiegel steht, kommt aus einer anderen Welt. Einer Welt, wo die Haut schimmert und die Augen blitzen und die Kleider aus Juwelen gemacht sind. Denn mein Kleid, oh, mein Kleid ist vollständig mit glitzernden, wertvollen Edelsteinen bedeckt, rot und gelb und weiß, und hier und da blau, um die Spitzen des Flammendesigns zu betonen. Schon bei der kleinsten Bewegung sieht es so aus, als wäre ich von Feuerzungen umgeben.

Ich bin nicht hübsch. Ich bin nicht schön. Ich bin strahlend wie die Sonne.

Eine Zeit lang starren mich alle an. »Oh, Cinna«, flüstere ich schließlich. »Danke.«

»Dreh dich für mich«, sagt er. Ich strecke die Arme aus und drehe mich im Kreis. Das Vorbereitungsteam kreischt vor Bewunderung.

Cinna schickt das Team weg und lässt mich in Kleid und Schuhen, die unendlich viel bequemer sind als die von Effie, umhergehen. Das Kleid fällt so, dass ich den Rock beim Gehen nicht anheben muss. Eine Sache weniger, um die ich mir Sorgen machen muss.

»Also dann, bereit fürs Interview?«, fragt Cinna. An seinem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass er Bescheid weiß. Er hat mit Haymitch gesprochen und weiß, wie grässlich ich bin.

»Ich bin schrecklich. Haymitch hat mich eine tote Nackt-Schnecke genannt. Was wir auch versucht haben, ich hab’s nicht hingekriegt. Ich kann einfach nicht so sein, wie er mich haben möchte«, sage ich.

Cinna denkt einen Augenblick nach. »Warum bist du nicht einfach du selbst?«, schlägt er vor.

»Ich selbst? Das bringt’s auch nicht. Haymitch sagt, ich sei mürrisch und feindselig«, erwidere ich.

»Das stimmt, das bist du … wenn Haymitch in der Nähe ist«, sagt Cinna und grinst. »Ich sehe dich nicht so. Das Vorbereitungsteam betet dich an. Sogar die Spielmacher hast du für dich eingenommen. Und was die Bürger des Kapitols betrifft, also, die reden nur von dir. Niemand kann sich deinem Temperament entziehen.«

Mein Temperament. Das ist ein neuer Gedanke. Ich bin mir nicht ganz sicher, was es bedeutet, aber es soll wohl heißen, dass ich eine Kämpfernatur bin. Dass ich Mut habe. Und ich bin ja auch nicht immer nur unfreundlich. Okay, vielleicht schenke ich nicht gerade jedem mein Herz, der mir über den Weg läuft, vielleicht könnte ich ein bisschen öfter lächeln, aber manche Menschen sind mir doch wichtig.

Cinna nimmt meine eisigen Hände in seine warmen. »Wenn du auf die Fragen antwortest, dann stell dir vor, du würdest zu einem Freund in der Heimat sprechen. Wer ist dein bester Freund?«, fragt Cinna.

»Gale«, sage ich spontan. »Nur dass es sinnlos ist, Cinna. Gale würde ich so was nie erzählen. Er weiß das alles schon.«

»Und ich? Käme ich als Freund infrage?«, fragt Cinna.

Von allen, die ich getroffen habe, seit ich von zu Hause fort bin, ist Cinna mein absoluter Favorit. Ich mochte ihn vom ersten Augenblick an und bisher hat er mich nicht enttäuscht. »Ich glaube schon, aber …«

»Ich werde mit den anderen Stylisten auf der Haupttribüne sitzen. Du kannst mich ansehen. Wenn du etwas gefragt wirst, schau zu mir und antworte so aufrichtig wie möglich«, sagt Cinna.

»Selbst wenn ich schreckliche Gedanken habe?«, frage ich. Denn das könnte tatsächlich passieren.

»Dann erst recht«, sagt Cinna. »Wirst du es versuchen?«

Ich nicke. Es ist ein Plan. Oder wenigstens ein Strohhalm, an den ich mich klammern kann.

Zu schnell wird es Zeit zum Aufbruch. Die Interviews finden auf einer Bühne statt, die vor dem Trainingscenter aufgebaut worden ist. Wenn ich erst mal aus meinem Zimmer gehe, ist es nur noch eine Frage von Minuten, bis ich vor der Menge stehe, vor den Kameras, vor ganz Panem.

Als Cinna die Türklinke drückt, halte ich ihn auf. »Cinna …« Das Lampenfieber hat mich voll erwischt.

»Denk dran, sie lieben dich schon jetzt«, sagt er sanft. »Sei einfach du selbst.«

Am Aufzug treffen wir auf den Rest des Teams aus Distrikt 12. Portia und ihre Truppe haben sich mächtig ins Zeug gelegt. Peeta sieht bemerkenswert aus in seinem schwarzen Anzug mit Flammenakzenten. Wir passen gut zusammen, aber ich bin erleichtert, dass wir diesmal nicht identisch aussehen. Haymitch und Effie sind dem Anlass gemäß aufgedonnert. Ich gehe Haymitch aus dem Weg, doch Effies Komplimente nehme ich an. Effie mag anstrengend und unbedarft sein, aber sie ist nicht so destruktiv wie Haymitch.