Als sich der Aufzug öffnet, werden die anderen Tribute gerade aufgestellt, um auf die Bühne zu gehen. Während der Interviews sitzen alle vierundzwanzig in einem großen Bogen um die Bühnenmitte. Ich bin als Letzte dran beziehungsweise als Vorletzte, denn bei den Interviews kommt immer der weibliche Tribut eines jeden Distrikts vor dem männlichen an die Reihe. Ich wünschte, ich wäre die Erste und könnte die Sache schnell hinter mich bringen! So aber muss ich mir anhören, wie witzig, lustig, bescheiden, wild und charmant die anderen sind, bevor ich endlich an der Reihe bin. Außerdem wird es dem Publikum langweilig werden, genau wie den Spielmachern. Und diesmal kann ich schlecht einen Pfeil in die Menge schießen, damit sie sich mir zuwendet.
Kurz bevor wir auf die Bühne treten, taucht Haymitch hinter Peeta und mir auf und knurrt: »Denkt dran, ihr seid immer noch ein glückliches Paar. Also benehmt euch auch so.«
Wie bitte? Ich dachte, davon hätten wir uns verabschiedet, als Peeta um getrenntes Coaching gebeten hat. Aber das war wohl sozusagen etwas Privates, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sei’s drum, für Zwischenmenschliches ist jetzt sowieso nicht mehr viel Gelegenheit, denn wir gehen bereits im Gänsemarsch zu unseren Plätzen und setzen uns.
Allein das Betreten der Bühne führt dazu, dass mein Atem schneller und flacher geht. Ich fühle den Puls in den Schläfen pochen. Die Erleichterung ist groß, als ich meinen Stuhl erreiche, denn ich habe Angst, dass ich wegen der Absätze oder der wackligen Knie stolpere. Obwohl es schon Abend wird, ist der Zentrale Platz heller erleuchtet als an einem Sommertag. Für die prominenten Gäste wurde eine erhöhte Tribüne errichtet, die Stylisten besetzen die erste Reihe. Immer wenn die Menge auf ihre Kreationen reagiert, werden die Kameras auf sie schwenken. Ein großer Balkon vor einem Gebäude rechter Hand ist für die Spielmacher reserviert. Die meisten anderen Balkone sind von Fernsehteams besetzt. Aber der Zentrale Platz und die darauf zuführenden Hauptstraßen sind voller Menschen. Nur Stehplätze. In sämtlichen Häusern und Gemeindesälen des Landes sind die Fernseher eingeschaltet. Jeder Bürger Panems ist auf Empfang. Heute Nacht wird es keine Stromausfälle geben.
Caesar Flickerman, der Mann, der seit über vierzig Jahren die Interviews führt, springt auf die Bühne. Es ist ein bisschen beängstigend, denn seine Erscheinung hat sich in all der Zeit buchstäblich nicht verändert. Dasselbe Gesicht unter einer Schicht aus reinweißem Make-up. Dieselbe Frisur, nur jedes Jahr eine andere Farbe. Dasselbe Bühnenkostüm, mitternachtsblau und übersät mit Tausenden von winzigen elektrischen Lämpchen, die wie Sterne funkeln. Im Kapitol gibt es Chirurgen, die einen jünger und dünner erscheinen lassen. In Distrikt 12 ist es in gewisser Hinsicht eine Leistung, alt auszusehen, denn dort sterben viele Menschen früh. Wenn man dort einem älteren Menschen begegnet, möchte man ihn zu seiner Langlebigkeit beglückwünschen und nach dem Geheimnis seines Überlebens fragen. Ein dicker Mensch wird beneidet, weil er im Gegensatz zu den meisten von uns mehr als genug hat. Hier ist das anders. Falten sind unerwünscht. Ein runder Bauch ist kein Zeichen von Erfolg.
Dieses Jahr ist Caesars Haar taubenblau und seine Augenlider und Lippen sind im gleichen Farbton geschminkt. Er sieht grotesk aus, aber nicht so gruselig wie letztes Jahr, als die Farbe tiefrot war und man meinen konnte, er würde bluten. Caesar macht zum Einstieg ein paar Gags, dann kommt er zur Sache.
Das Mädchen aus Distrikt 1, das in seinem durchsichtigen goldenen Abendkleid aufreizend aussieht, geht zu Caesar ins Rampenlicht, um interviewt zu werden. Ihr Mentor hatte todsicher keine Mühe, ein Image für sie zu erfinden. Das wallende blonde Haar, die smaragdgrünen Augen und ihr groß gewachsener, üppiger Körper … Sie ist eine richtige Sexbombe.
Jedes Interview dauert nur drei Minuten. Dann ertönt ein Signal und der nächste Tribut ist dran. Eins muss man Caesar lassen, er tut wirklich sein Bestes, um die Tribute zur Geltung zu bringen. Er ist freundlich, versucht die Nervösen zu beruhigen, lacht bei den müdesten Scherzen und kann eine schwache Antwort durch die Art, wie er darauf reagiert, unvergesslich machen.
Ich sitze da wie eine Dame, so wie Effie es mir gezeigt hat, während die Distrikte einer nach dem anderen drankommen. Jeder scheint irgendeine Rolle zu spielen. Der riesige Junge aus Distrikt 2 ist eine skrupellose Tötungsmaschine. Das fuchsgesichtige Mädchen aus Distrikt 5 ist durchtrieben und schwer zu fassen. Ich habe Cinna sofort gesehen, als er seinen Platz eingenommen hat, aber trotz seiner Anwesenheit bin ich verkrampft. 8, 9, 10. Der verkrüppelte Junge aus Distrikt 10 ist sehr still. Meine Hände schwitzen wie verrückt, doch das juwelenbesetzte Kleid saugt nichts auf, und als ich sie daran abwischen will, rutschen sie ab. 11.
Rue, die ein hauchzartes Kleid mit Flügeln trägt, flattert auf Caesar zu. Beim Anblick dieses elfengleichen Nichts von einem Tribut verstummt die Menge. Caesar ist sehr nett zu ihr, er gratuliert ihr zu der Sieben im Training, eine exzellente Bewertung für eine so kleine Person. Als er sie fragt, welches ihre größte Stärke in der Arena sein wird, zögert sie nicht. »Ich bin schwer zu fangen«, sagt sie mit bebender Stimme. »Und wenn sie mich nicht fangen können, können sie mich auch nicht töten. Also schreiben Sie mich nicht ab.«
»Nicht in einer Million Jahren«, sagt Caesar aufmunternd.
Thresh, der Junge aus Distrikt 11, hat die gleiche dunkle Haut wie Rue, aber hier hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Er ist ein wahrer Riese, über eins neunzig groß und bärenstark, doch mir ist aufgefallen, dass er die Einladung der Karrieretribute, sich ihnen anzuschließen, ausgeschlagen hat. Stattdessen ist er fast die ganze Zeit über für sich geblieben, hat mit niemandem gesprochen und nur wenig Interesse am Training gezeigt. Trotzdem hat er eine Zehn erreicht und man kann sich unschwer vorstellen, dass er die Spielmacher beeindruckt hat. Er geht nicht auf Caesars Geplänkel ein, er antwortet mit Ja oder Nein oder sagt einfach gar nichts.
Wenn ich so groß wäre wie er, dann könnte ich so mürrisch und feindselig sein, wie ich wollte, das wäre vollkommen egal! Ich wette, die Hälfte der Sponsoren zieht ihn zumindest in Betracht. Wenn ich Geld hätte, würde ich selbst auf ihn setzen.
Dann wird Katniss Everdeen aufgerufen und wie im Traum stehe ich auf und gehe zur Bühnenmitte. Ich schüttele Caesars ausgestreckte Hand und er ist so taktvoll, seine Hand nicht sofort an seinem Anzug abzuwischen.
»Also, Katniss, vom Distrikt 12 ins Kapitol, das ist ja bestimmt eine ganz schöne Umstellung. Was hat dich am meisten beeindruckt, seit du hier bist?«, fragt er.
Was? Was hat er gesagt? Ich kann ihm nicht richtig folgen.
Mein Mund ist trocken wie Sägemehl. Verzweifelt suche ich in der Menge nach Cinna und lasse ihn nicht mehr aus den Augen. Ich stelle mir vor, die Worte kämen aus seinem Mund. »Was hat dich am meisten beeindruckt, seit du hier bist?« Ich zerbreche mir den Kopf auf der Suche nach etwas, worüber ich mich hier gefreut habe. Sei ehrlich, denke ich. Sei ehrlich.
»Der Lammeintopf«, presse ich hervor.
Caesar lacht und ich merke undeutlich, dass ein paar Zuschauer einstimmen.
»Der mit Backpflaumen?«, fragt Caesar. Ich nicke. »Oh, den esse ich immer tonnenweise.« Er legt die Hände auf seinen Bauch und dreht sich seitlich zum Publikum. »Das sieht man doch nicht, oder?« Die Zuschauer beschwichtigen ihn und applaudieren. Das ist es, was ich meinte. Caesar versucht den Leuten aus der Klemme zu helfen.
»Also, Katniss«, sagt er vertraulich. »Bei deinem Auftritt auf der Eröffnungsfeier ist mir das Herz stehen geblieben. Was hältst du persönlich von diesem Kostüm?«