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Als wir unsere Geschäfte auf dem Markt abgeschlossen haben, gehen wir zum Haus des Bürgermeisters, um die Hälfte der Erdbeeren zu verkaufen, denn wir wissen, dass er besonders versessen darauf ist und unseren Preis bezahlen kann. Die Tochter des Bürgermeisters, Madge, öffnet die Hintertür. Sie ist in meinem Schuljahrgang. Von einer Bürgermeistertochter würde man erwarten, dass sie sich für etwas Besonderes hält, aber sie ist ganz in Ordnung. Sie bleibt einfach für sich. Wie ich. Da keine von uns beiden einer Clique angehört, sind wir in der Schule viel zusammen. Gemeinsam zu Mittag essen, in Versammlungen nebeneinandersitzen, Partnerinnen beim Schulsport. Wir reden kaum miteinander und das ist uns beiden nur recht.

Heute hat sie ihre triste Schuluniform gegen ein teures weißes Kleid getauscht und die blonden Haare mit einem rosa Band hochgebunden. Erntekleidung.

»Hübsches Kleid«, sagt Gale.

Madge wirft ihm einen Blick zu, um herauszufinden, ob das Kompliment ernst gemeint ist oder ironisch. Es ist wirklich ein schönes Kleid, aber an einem normalen Tag würde sie es nie tragen. Sie presst die Lippen zusammen, dann lächelt sie. »Na ja, falls ich die bin, die ins Kapitol muss, möchte ich doch hübsch aussehen, oder?«

Jetzt ist es an Gale, verwirrt zu sein. Meint sie das wirklich? Oder will sie sich mit ihm anlegen? Ich glaube, Letzteres.

»Du musst nicht ins Kapitol«, sagt Gale kühl. Sein Blick bleibt an einer kleinen runden Brosche hängen, die sie sich ans Kleid gesteckt hat. Echtes Gold. Wunderschön gearbeitet. Davon könnte eine Familie ein paar Monate leben. »Wie viele Lose kannst du schon haben? Fünf? Ich hatte schon sechs, als ich zwölf war.«

»Sie kann doch nichts dafür«, sage ich.

»Nein, niemand kann etwas dafür. Ist halt nur so«, sagt Gale.

Madge sieht auf einmal verschlossen aus. Sie drückt mir das Geld für die Erdbeeren in die Hand. »Viel Glück, Katniss.«

»Dir auch«, sage ich und die Tür geht zu.

Schweigend gehen wir zum Saum. Es gefällt mir nicht, dass Gale Madge so angegangen hat, aber er hat natürlich recht. Das Erntesystem ist ungerecht, die Armen kommen am schlechtesten weg. Sobald man zwölf wird, kann man bei der Ernte ausgewählt werden. Mit zwölf bekommt man ein Los. Mit dreizehn zwei. Und immer so weiter bis achtzehn, dem Jahr, in dem man zum letzten Mal ausgewählt werden kann und der Name siebenmal in die Glaskugel wandert. Das gilt für jeden Bürger in den zwölf Distrikten im ganzen Land Panem.

Und jetzt kommt der Haken. Sagen wir, jemand ist arm und hungrig wie wir. Dann kann er seinen Namen noch öfter hinzufügen lassen, im Tausch gegen Tesserasteine. Jeder Tesserastein ist eine karge Jahresration Getreide und Öl für eine Person wert. Auch für seine Familienmitglieder kann man Tesserasteine erwerben. Als ich zwölf war, wanderte mein Name daher viermal in die Glaskugel. Einmal, weil ich musste, und dreimal im Tausch gegen Tesserasteine für Getreide und Öl für mich, Prim und meine Mutter. Und so ging es jedes Jahr. Da die Einträge angehäuft werden, ist mein Name jetzt, da ich sechzehn bin, zwanzigmal dabei. Gale ist achtzehn und hat seine fünfköpfige Familie sieben Jahre lang allein ernährt oder miternährt; sein Name ist sogar zweiundvierzigmal dabei.

Deshalb macht ihn jemand wie Madge, die nie einen Tesserastein brauchte, natürlich wütend. Für sie ist die Chance, dass ihr Name gezogen wird, sehr gering im Vergleich zu denen, die im Saum leben wie wir. Es ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Und obwohl die Regeln vom Kapitol festgelegt wurden und nicht von den Distrikten, schon gar nicht von Madges Familie, fällt es schwer, denen, die sich nicht für Tesserasteine melden müssen, nicht zu grollen.

Gale weiß, dass er mit seiner Wut auf Madge die Falsche trifft. Ich habe ihn an anderen Tagen tief im Wald darüber toben hören, dass die Tesserasteine nur ein weiteres Mittel sind, um in unserem Distrikt Elend zu schaffen. Ein Weg, um Hass zu schüren zwischen den hungernden Arbeitern des Saums und denjenigen, die im Allgemeinen ein sicheres Mittagessen vorgesetzt bekommen, und dafür zu sorgen, dass wir einander nie trauen werden. »Das Kapitol hat den Nutzen, wenn wir untereinander gespalten sind«, würde er vielleicht sagen, wenn nur meine Ohren es hören könnten. Wenn nicht Erntetag wäre. Wenn nicht ein Mädchen mit Goldbrosche und ohne Tesserasteine diese Bemerkung gemacht hätte, die für sie, da bin ich mir sicher, ganz harmlos war.

Im Gehen werfe ich einen flüchtigen Blick auf Gales Gesicht, das unter dem versteinerten Ausdruck immer noch glüht. Seine Wutausbrüche kommen mir sinnlos vor, wenn ich das auch nie sage. Nicht dass ich ihm nicht recht geben würde. Aber wozu soll es gut sein, mitten im Wald gegen das Kapitol anzubrüllen? Das ändert gar nichts. Dadurch wird das Leben nicht gerecht. Es macht uns nicht satt. Allenfalls verscheucht es das Wild in der Nähe. Trotzdem lasse ich ihn brüllen. Besser, er tut es im Wald als im Distrikt.

Gale und ich teilen unsere Beute, sodass jeder zwei Fische, ein paar Laibe gutes Brot, Gemüse, ein Viertel der Erdbeeren, Salz, Paraffin und ein bisschen Geld bekommt.

»Bis nachher auf dem Platz«, sage ich.

»Zieh dir was Hübsches an«, sagt er provozierend.

Meine Mutter und meine Schwester sind schon ausgehfertig, als ich nach Hause komme. Meine Mutter trägt ein schönes Kleid aus Apothekerzeiten. Prim steckt in meinem ersten Erntedress, einem Rock mit Rüschenbluse. Er ist ihr ein bisschen groß, aber meine Mutter hat ihn mit Nadeln festgesteckt. Trotzdem rutscht ihr die Bluse hinten immer wieder aus dem Rock.

Eine Wanne mit warmem Wasser wartet auf mich. Ich schrubbe den Dreck und Schweiß aus dem Wald ab und wasche mir die Haare. Zu meiner Überraschung hat meine Mutter eins von ihren hübschen Kleidern für mich herausgelegt. Ein zartblaues mit passenden Schuhen.

»Ist das wirklich für mich?«, frage ich. Allmählich weise ich nicht mehr alle ihre Angebote zurück. Eine Zeit lang war ich so wütend auf sie, dass sie gar nichts für mich tun durfte. Und das hier ist etwas Besonderes. Die Kleider aus ihrer Vergangenheit bedeuten ihr sehr viel.

»Ja. Komm, wir stecken dir auch das Haar hoch«, sagt sie. Ich erlaube ihr, dass sie es mit dem Handtuch trocken reibt und zu einem Zopf flicht. Ich erkenne mich fast gar nicht wieder in dem gebrochenen Spiegel, der an der Wand lehnt.

»Du siehst schön aus«, sagt Prim mit gedämpfter Stimme.

»Gar nicht wie ich selbst«, sage ich. Ich umarme sie, denn ich weiß, dass die nächsten Stunden schrecklich für sie sein werden. Ihre erste Ernte. Ihr droht kaum Gefahr, denn sie hat nur ein Los. Ich würde es nicht zulassen, dass sie einen Tesserastein nimmt. Aber sie macht sich Sorgen um mich. Dass das Undenkbare eintreten könnte.

Ich beschütze Prim, so gut ich nur kann, doch gegen die Ernte bin ich machtlos. Die Qual, die ich jedes Mal empfinde, wenn sie Kummer hat, wallt in meiner Brust auf und droht sich in meinem Gesicht zu spiegeln. Ich sehe, dass ihre Bluse hinten schon wieder aus dem Rock gerutscht ist, und zwinge mich, ruhig zu bleiben. »Schwänzchen rein, kleine Ente«, sage ich und stopfe die Bluse wieder hinein.