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Ich erwarte, dass die Leiter mich dort freigibt, aber ich klebe weiter fest. Eine Frau in einem weißen Kittel kommt mit einer Spritze in der Hand auf mich zu. »Das ist nur dein Aufspürer. Je besser du stillhältst, desto effektiver kann ich ihn einsetzen«, sagt sie.

Stillhalten? Ich bin still wie eine Statue. Aber das bewahrt mich nicht davor, den stechenden Schmerz zu spüren, als die Nadel das Aufspürgerät aus Metall tief unter die Haut an der Innenseite meines Unterarms einsetzt. Jetzt können die Spielmacher mich jederzeit in der Arena aufspüren. Wollen wohl keinen Tribut verlieren.

Sobald der Aufspürer an seinem Platz ist, lässt die Leiter mich frei. Die Frau verschwindet und Cinna wird vom Dach heraufgeholt. Ein Avoxjunge kommt herein und führt uns in einen Raum, wo ein Frühstück vorbereitet ist. Trotz der Spannung im Bauch esse ich, so viel ich kann, obwohl keine der köstlichen Speisen irgendeinen Eindruck hinterlässt. Ich bin so nervös, dass ich ebenso gut Kohlenstaub essen könnte. Das Einzige, was mich überhaupt berühren kann, ist die Aussicht aus dem Fenster, während wir über die Stadt und die Wildnis hinwegsegeln. So sehen es die Vögel. Nur dass sie frei und sicher sind. Genau das Gegenteil von mir.

Der Flug dauert etwa eine halbe Stunde, als die Fenster verdunkelt werden: Offenbar nähern wir uns der Arena. Das Hovercraft landet und Cinna und ich gehen zurück zur Leiter, die diesmal durch eine Röhre in den Untergrund führt, in die Katakomben, die unter der Arena liegen. Wir folgen den Hinweisschildern bis zu meinem Ziel, einer Kammer für meine Vorbereitung. Die offizielle Bezeichnung lautet »Startraum«. In den Distrikten aber heißt sie nur »der Pferch«. Wo die Tiere darauf warten, zur Schlachtbank geführt zu werden.

Alles ist brandneu, ich bin der erste und einzige Tribut, der diesen Startraum je benutzen wird. Die Arenen sind historische Orte, die nach den Spielen erhalten bleiben. Beliebte Ausflugs-und Urlaubsziele für die Bewohner des Kapitols. Bleiben Sie einen Monat, sehen Sie sich die Spiele noch einmal an, machen Sie eine Tour durch die Katakomben, besuchen Sie die Schauplätze des Todes! Sie können sogar an Wiederaufführungen teilnehmen.

Das Essen soll hervorragend sein, heißt es.

Ich gebe mir alle Mühe, das Frühstück bei mir zu behalten, während ich dusche und mir die Zähne putze. Cinna flicht mein Haar zu dem üblichen schlichten Zopf, der mir auf den Rücken fällt. Dann werden die Kleider gebracht, für jeden Tribut die gleichen. Was mein Äußeres angeht, so hat Cinna diesmal nichts zu sagen, er weiß nicht mal, was sich in dem Bündel befindet; aber er hilft mir, die Unterwäsche, eine schlichte gelbbraune Hose, eine hellgrüne Bluse, einen derben braunen Gürtel und eine dünne schwarze Kapuzenjacke, die mir bis auf die Schenkel fällt, anzuziehen. »Das Jackenfutter soll die Körperwärme speichern. Stell dich auf kalte Nächte ein«, sagt er.

Die Stiefel, die ich über die eng anliegenden Socken streife, sind besser als erhofft. Aus weichem Leder, ähnlich wie meine eigenen zu Hause. Diese haben allerdings eine dünne flexible Gummisohle mit Profil. Gut zum Rennen.

Als ich denke, ich bin fertig, zieht Cinna die Brosche mit dem goldenen Spotttölpel aus der Tasche. Die hatte ich total vergessen.

»Woher hast du die?«, frage ich.

»Von den grünen Sachen, die du im Zug anhattest«, sagt er. Jetzt erinnere ich mich, dass ich sie vom Kleid meiner Mutter abgenommen und an meine Bluse gesteckt hatte. »Sie ist nur knapp durch die Prüfkommission gekommen. Manch einer hat vermutet, sie könnte als Waffe benutzt werden, was ein unfairer Vorteil gewesen wäre. Aber dann haben sie sie doch durchgehen lassen«, erzählt Cinna. »Dafür haben sie den Ring des Mädchens aus Distrikt 1 einkassiert. Wenn man den Schmuckstein drehte, kam ein Dorn zum Vorschein. Vergiftet. Sie hat behauptet, sie hätte nicht gewusst, dass der Ring manipuliert worden ist, und es gab keine Möglichkeit, ihr das Gegenteil zu beweisen. Auf jeden Fall hat sie ihr Andenken verloren. So, du bist startklar. Geh ein bisschen herum. Schau mal, ob sich alles bequem anfühlt.«

Ich gehe, laufe im Kreis, schwenke die Arme hin und her. »Alles prima. Passt wie angegossen.«

»Dann bleibt uns jetzt nur noch, auf den Aufruf zu warten«, sagt Cinna. »Oder möchtest du vielleicht noch etwas essen?«

Ich lehne das Essen ab, nehme aber gern ein Glas Wasser an, das ich in kleinen Schlucken trinke, während wir auf dem Sofa warten. Da ich nicht an meinen Fingernägeln oder Lippen kauen möchte, nage ich an meiner Wange. Sie ist immer noch nicht ganz verheilt von neulich. Sofort habe ich Blutgeschmack im Mund.

Die Nervosität verwandelt sich nach und nach in Schrecken, als ich mir vorstelle, was auf mich zukommt. In einer Stunde kann ich schon tot sein, mausetot. Wenn’s denn so lange dauert. Meine Finger tasten nach der kleinen harten Beule an meinem Unterarm, wo die Frau das Aufspürgerät eingesetzt hat. Ich drücke drauf, obwohl es wehtut. So fest drücke ich, dass sich ein kleiner Bluterguss bildet.

»Möchtest du reden, Katniss?«, fragt Cinna.

Ich schüttele den Kopf, strecke dann aber die Hand nach ihm aus. Cinna nimmt sie in seine Hände. Und so sitzen wir da, bis eine angenehme Frauenstimme verkündet, dass es Zeit für den Start sei.

Während ich immer noch Cinnas Hand halte, gehe ich hinüber und stelle mich auf die runde Metallplatte. »Vergiss nicht, was Haymitch gesagt hat. Wegrennen, Wasser finden. Alles andere ergibt sich dann«, sagt er. Ich nicke. »Und denk dran: Ich darf nicht wetten, aber wenn, dann würde ich mein Geld auf dich setzen.«

»Ehrlich?«, flüstere ich.

»Ehrlich«, sagt Cinna. Er beugt sich herab und küsst mich auf die Stirn. »Viel Glück, Mädchen in Flammen.« Dann senkt sich ein Glaszylinder über mich, trennt unsere Hände, schneidet ihn von mir ab. Er tippt sich mit den Fingern unters Kinn. Kopf hoch.

Ich hebe das Kinn und stehe so gerade da wie möglich. Langsam bewegt sich der Zylinder aufwärts. Etwa fünfzehn Sekunden lang bin ich in Dunkelheit gehüllt, dann spüre ich, wie die Metallscheibe mich oben aus dem Zylinder herausstößt, ins Freie. Einen Augenblick lang bin ich vom hellen Sonnenlicht geblendet und bemerke nur einen starken Wind mit dem hoffnungsfrohen Duft von Kiefern.

Dann erschallt aus allen Richtungen die dröhnende Stimme des legendären Moderators Claudius Templesmith.

»Meine Damen und Herren, die vierundsiebzigsten Hungerspiele haben begonnen!«

11

Sechzig Sekunden. So lange müssen wir auf unseren Metallscheiben stehen bleiben, bis ein Gong uns freilässt. Geht jemand vorher hinunter, reißen Landminen ihm die Beine ab. Sechzig Sekunden, um den Ring der Tribute zu betrachten, die alle in gleicher Entfernung vom Füllhorn stehen, einem riesigen goldenen Horn mit gebogenem Ende, dessen Öffnung mindestens sechs Meter groß ist und von allem Möglichen überquillt, was uns hier in der Arena das Überleben sichern wird. Nahrungsmittel, Wasserkanister, Waffen, Medikamente, Kleidung, Feueranzünder. Rings um das Füllhorn verstreut liegen noch mehr Vorräte, deren Wert immer mehr abnimmt, je weiter sie vom Horn entfernt sind. Nur ein paar Schritte von meinen Füßen entfernt liegt zum Beispiel eine ein mal ein Meter große Plastikplane. Bei einem Platzregen wäre sie bestimmt hilfreich. Aber in der Öffnung des Füllhorns erkenne ich ein zusammengerolltes Zelt, das mich bei so ziemlich jedem Wetter schützen würde. Vorausgesetzt, ich hätte den Mumm, hinzugehen und mit den anderen dreiundzwanzig Tributen darum zu kämpfen. Was ich nicht tun soll, wie mir eingeschärft wurde.