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Haymitch wird auf einer Trage fortgebracht und Effie Trinket versucht, die Show wieder in Gang zu bringen. »Was für ein aufregender Tag!«, flötet sie, während sie versucht, ihre Perücke gerade zu rücken, die eine bedenkliche Schlagseite nach rechts aufweist. »Aber es wird noch aufregender! Jetzt werden wir unseren Jungentribut auswählen!« In der Hoffnung, ihre Haarpracht unter Kontrolle zu bringen, legt sie eine Hand auf den Kopf, während sie zu der Glaskugel mit den Jungennamen hinübergeht und den ersten Zettel herausholt, den sie zu fassen bekommt. Sie eilt zurück zum Podest und mir bleibt nicht mal Zeit, Gale die Daumen zu drücken, als sie auch schon den Namen verliest. »Peeta Mellark.« Peeta Mellark!

Oh nein, denke ich. Nicht der. Denn ich kenne den Namen, obwohl ich noch nie direkt mit seinem Träger gesprochen habe. Peeta Mellark.

Nein, heute ist das Glück wirklich nicht auf meiner Seite.

Ich sehe zu, wie er sich einen Weg zur Bühne bahnt. Mittelgroß, stämmiger Körperbau, aschblondes Haar, das ihm in Wellen in die Stirn fällt. Der Schreck steht ihm ins Gesicht geschrieben. Man sieht, wie er darum kämpft, gleichgültig zu bleiben, aber in seinen blauen Augen sehe ich die Angst, die ich von meiner Beute kenne. Trotzdem steigt er zielstrebig auf die Bühne und nimmt seinen Platz ein.

Effie Trinket erkundigt sich nach Freiwilligen, doch niemand tritt vor. Ich weiß, dass er zwei ältere Brüder hat, ich habe sie in der Bäckerei gesehen, aber der eine ist inzwischen wahrscheinlich zu alt, um sich freiwillig zu melden, und der andere will nicht. Das ist der Normalfall. Am Tag der Ernte reicht der Familiensinn bei den meisten Menschen nicht weit. Was ich getan habe, war radikal.

Wie jedes Jahr an dieser Stelle kommt der Bürgermeister seiner Pflicht nach und liest den langen, öden Hochverratsvertrag vor, aber ich höre überhaupt nicht hin.

Wieso er?, denke ich. Dann versuche ich mir einzureden, dass es egal ist. Peeta Mellark und ich sind nicht befreundet. Nicht mal Nachbarn. Wir reden nicht miteinander. Unsere einzige richtige Begegnung liegt Jahre zurück. Er hat es wahrscheinlich vergessen. Aber ich nicht und ich weiß, dass ich es nie vergessen werde …

Es war in der schlimmsten Zeit. Mein Vater war drei Monate zuvor bei dem Minenunfall getötet worden, im eisigsten Januar seit Menschengedenken. Die Dumpfheit nach seinem Verlust verzog sich und der Schmerz traf mich aus dem Nichts, mein Körper krümmte sich zusammen und wurde von Schluchzern geschüttelt. Wo bist du?, schrie es in mir. Wohin bist du gegangen? Natürlich bekam ich nie eine Antwort.

Der Distrikt hatte uns zum Ausgleich für seinen Tod einen kleinen Geldbetrag zugewiesen, genug, um einen Monat der Trauer zu überstehen. Danach wurde erwartet, dass meine Mutter sich eine Arbeit suchte. Aber das tat sie nicht. Sie tat gar nichts, sie saß nur auf dem Stuhl, noch häufiger kauerte sie in Decken gehüllt auf ihrem Bett, den Blick in die Ferne gerichtet. Ab und zu kam Bewegung in sie, sie stand auf, als hätte sie dringend etwas zu erledigen, nur um dann wieder in ihre Starre zu fallen. Prims Flehen schien sie nicht zu berühren.

Ich hatte entsetzliche Angst. Heute denke ich, dass meine Mutter in einer dunklen Welt der Trauer eingeschlossen war, aber damals wusste ich nur, dass ich nicht nur einen Vater verloren hatte, sondern auch eine Mutter. Mit elf Jahren, Prim war sieben, übernahm ich die Rolle des Familienoberhaupts. Ich hatte keine Wahl. Ich kaufte unser Essen auf dem Markt, kochte es, so gut ich konnte, und achtete darauf, dass Prim und ich einigermaßen anständig aussahen. Denn wenn bekannt geworden wäre, dass meine Mutter sich nicht mehr um uns kümmern konnte, dann hätte der Distrikt uns ihr weggenommen und ins Gemeindeheim gesteckt. Ich kannte den Anblick dieser Heimkinder aus der Schule. Die Traurigkeit, die Male, die wütende Hände auf ihren Gesichtern hinterlassen hatten, die Hoffnungslosigkeit, die ihre Schultern beugte. Davor musste ich Prim unbedingt bewahren. Die süße, kleine Prim, die weinte, wenn ich weinte, noch ehe sie wusste, warum; die meiner Mutter das Haar bürstete und flocht, bevor wir zur Schule aufbrachen; die noch immer jeden Abend den Rasierspiegel meines Vaters polierte, weil er den Kohlenstaub gehasst hatte, der sich auf alles im Saum legte. Im Gemeindeheim würde man sie zerquetschen wie eine Wanze. Deshalb verheimlichte ich unsere elende Lage.

Doch das Geld wurde knapp und langsam, aber sicher verhungerten wir. Man kann es nicht anders sagen. Wenn ich nur bis Mai durchhalten würde, redete ich mir ein, nur bis zum 8. Mai, dem Tag, an dem ich zwölf wurde, dann könnte ich mich für die Tesserasteine eintragen und das wertvolle Getreide und Öl bekommen, um uns zu ernähren. Nur dass es bis dahin noch einige Wochen waren. Bis dahin konnten wir auch schon tot sein.

Hungertod ist kein ungewöhnliches Schicksal in Distrikt 12. Wer hätte die Opfer nicht gesehen? Ältere Leute, die nicht arbeiten können. Kinder aus Familien mit zu vielen hungrigen Mäulern. Verletzte aus den Minen. Sie streifen durch die Straßen. Und eines Tages sieht man sie reglos an einer Wand sitzen oder auf der Weide liegen, man hört das Wehklagen aus einem Haus und die Friedenswächter werden herbeigerufen, um die Leiche abzuholen. Offiziell ist nie Hunger die Todesursache. Immer ist es Grippe, Kälte, Lungenentzündung. Aber davon lässt sich niemand täuschen.

Am Nachmittag meiner Begegnung mit Peeta Mellark fiel eiskalter Regen in Strömen. Ich war in der Stadt gewesen und hatte versucht, Prims abgewetzte Babysachen auf dem Markt zu verkaufen, aber es gab keine Abnehmer. Obwohl ich mit meinem Vater schon ein paarmal auf dem Hob gewesen war, traute ich mich nicht allein an diesen rauen, düsteren Ort. Die alte Jagdjacke meines Vaters war durchweicht vom Regen und ich fror bis auf die Knochen. Seit drei Tagen hatten wir nichts als heißes Wasser mit ein paar vertrockneten Pfefferminzblättern zu uns genommen, die ich ganz hinten in einem Küchenschrank gefunden hatte. Als der Markt schloss, zitterte ich so heftig, dass ich mein Bündel mit den Babysachen in eine Schlammpfütze fallen ließ. Ich hob es nicht auf, weil ich Angst hatte, ich könnte umkippen und nicht wieder hochkommen. Und sowieso wollte niemand die Kleider haben.

Ich konnte nicht nach Hause gehen. Zu Hause waren meine Mutter mit ihren toten Augen und meine kleine Schwester mit den eingefallenen Wangen und aufgesprungenen Lippen. Ich konnte nicht mit hoffnungsleeren Händen in diesen Raum zurück, in den Qualm des Feuers aus feuchten Ästen, die ich am Waldrand aufgelesen hatte, nachdem uns die Kohle ausgegangen war.

Allein stolperte ich durch eine matschige Gasse hinter den Läden, in denen die wohlhabenden Stadtbewohner einkaufen. Die Händler haben die Wohnungen über ihren Geschäften, sodass ich mich sozusagen in ihren Gärten befand. Ich erinnere mich an die Umrisse der Beete, die noch nicht für das Frühjahr bepflanzt waren, ein oder zwei Ziegen in einem Pferch, einen durchnässten Hund, der an einen Pflock gebunden war, resigniert im Dreck zusammengekauert.

In Distrikt 12 ist jede Art von Diebstahl verboten. Darauf steht der Tod. Aber mir kam in den Sinn, dass ich vielleicht in den Mülltonnen etwas finden könnte, und die Mülltonnen waren Freiwild. Vielleicht einen Knochen beim Metzger oder verfaultes Gemüse beim Lebensmittelhändler, etwas, das niemand essen wollte außer meiner verzweifelten Familie. Unglücklicherweise waren die Mülltonnen gerade geleert worden.