„Sie kommen in diese Richtung“, sagte er. „Nun aber rasch. Können Sie laufen?“
„Ich werde es versuchen“, sagte ich.
Der Boden fiel ab, stieg wieder an. Schließlich konnte ich weiter vorn etwas erkennen, von dem ich vermutete, daß es sich um ihr Raumschiff handelte. Ein glockenförmiges Ding aus Metall, durchsetzt mit dunkleren Flecken, wahrscheinlich den Luken, die sich unregelmäßig über die Oberfläche verteilten, eine offene Schleuse … Meine Lungen arbeiteten wie eine Ziehharmonika bei einer polnischen Hochzeit, ich spürte die ersten Wogen der Dunkelheit in meinem Kopf. Ich wußte, ich würde wieder zusammenbrechen.
Dann folgte das bekannte Flimmern, als wäre ich einen Schritt aus der Realität herausgetreten. Ich wußte, mein Blut sackte ab, und ich verfluchte die Hydraulik, die dafür verantwortlich war. Zwischen dem zunehmend lauteren Summen hörte ich Pistolenschüsse, alles klang wie die Geräuschkulisse einer weit entfernten Show, noch nicht einmal das konnte mich wieder zurückreißen.
Wenn einem das eigene Adrenalin schon im Stich läßt, wem soll man dann noch vertrauen?
Dabei wollte ich es mit aller Gewalt zu der Schleuse und hinein ins Innere schaffen. So weit war es nun auch wieder nicht. Aber mittlerweise wußte ich, ich würde es nicht schaffen. Eine absurde Art zu sterben. So nahe – und noch immer völlig verständnislos …
„Ich kann nicht mehr!“ rief ich der Gestalt an meiner Seite zu, wußte aber nicht, ob mir die Worte tatsächlich über die Lippen gekommen waren.
Das Geräusch, das sich nach Schüssen anhörte, hielt an, leise, wie beim Popcornherstellen. Es waren höchstens noch zehn bis zwölf Meter, dessen war ich mir sicher, denn Entfernungen kann ich gut abschätzen. Ich riß die Arme hoch, um im Fallen mein Gesicht zu schützen, doch den Aufprall spürte ich schon nicht mehr. Ich stürzte vorwärts in eine angenehme Schwärze, die alles verschluckte, die Schüsse, das Summen, die Schreie, meinen Aufprall, meinen Sturz.
So, so und wieder so. Erwachen als eine Angelegenheit von Texturen und Schatten: Vorwärtsstrebend und zurückweichend entlang einer Skala aus sanft/dunkel, glatt/schattig, glänzend/hell – alles andere ausgelöscht oder dem angepaßt: die Farben, Formen und Geräusche als mindere Funktion dieser drei.
Vorwärtsschweben zu hart und grell, Zurückweichen zu weich und schwarz …
„Kannst du mich hören, Fred?“ – die samtene Dämmerung.
„Ja“ – meine glühenden Skalen.
„Besser, besser, besser …“
„Was/wer?“
„Näher, näher, daß keine Störgeräusche …“
„Hier?“
„Besser, das vermindert die subvokale …“
„Ich verstehe nicht.“
„Später. Nur eines, eines muß gesagt werden: Artikel 7224, Absatz C. Wiederhole das!“
„Artikel 7224, Absatz C. Warum?“
„Wenn sie wünschen, dich wegzubringen – und das werden sie –, dann sag das. Aber nicht, warum. Nicht vergessen.“
„Ja, aber …“
„Später …“
Eine Frage von Texturen und Schattierungen: hell, heller, glatt, glatter. Hart. Klar.
So daliegend, in meiner Schlinge, während Wachperiode eins:
„Wie fühlen Sie sich jetzt?“ fragte Ragma.
„Müde, schwach, immer noch durstig.“
„Verständlich. Hier, trinken Sie das.“
„Danke. Sagen Sie mir, was geschehen ist. Wurde ich getroffen?“
„Ja, Sie wurden zweimal getroffen. Aber nur oberflächlich. Wir haben alle Schäden repariert. Der Heilungsprozeß sollte in wenigen Stunden abgeschlossen sein.“
„Stunden? Wie viele Stunden sind denn seit unserem Start verstrichen?“
„Schätzungsweise drei. Ich habe Sie an Bord getragen, nachdem Sie gestürzt waren. Wir sind gestartet und haben Ihre Verfolger, den Kontinent und den Planeten hinter uns gelassen. Augenblicklich befinden wir uns im Orbit um Ihre Welt, aber den werden wir in Kürze verlassen.“
„Wenn Sie mich tragen konnten, dann müssen Sie kräftiger sein als Sie aussehen.“
„Offensichtlich.“
„Wohin wollen Sie mich denn nun bringen?“
„Zu einem anderen Planeten – einem sehr hübschen, aber der Name wird Ihnen wahrscheinlich nichts sagen.“
„Warum?“
„Sicherheit und Notwendigkeit. Sie sind in der Position, Informationen zu besitzen, die sehr nützlich sein könnten hinsichtlich eines Falles, mit dem wir zu tun haben. Wir möchten diese Informationen natürlich haben, aber es gibt andere, die sie ebenfalls wollen. Wegen dieser anderen wären Sie auf Ihrem eigenen Planeten ständig in Gefahr. Daher ist es das einfachste, Sie von dort wegzubringen, sowohl in Ihrem als auch in unserem Interesse.“
„Fragen Sie mich ruhig. Da Sie mich gerettet haben, werde ich mich nicht undankbar zeigen. Was wollen Sie wissen? Wenn es dasselbe ist, was auch Zeemeister und Buckler wissen wollten, dann werde ich aber kaum eine Hilfe für Sie sein.“
„Von dieser Voraussetzung gehen wir aus. Aber wir sind der Meinung, daß die Informationen, die wir meinen, auf einer unterbewußten Ebene doch vorhanden sind. Und die beste Methode, so etwas ans Licht zu fördern, besteht darin, das Büro eines telepathischen Analytikers aufzusuchen. Von denen gibt es viele dort, wo wir hingehen.“
„Wie lange werden wir denn dort sein?“
„Sie werden so lange dort bleiben, bis wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben.“
„Und wie lange wird das dauern?“
Er schüttelte seufzend den Kopf.
„Das können wir im Augenblick unmöglich sagen.“
Ich fühlte, die sanfte Schwärze streifte mich wie der Schwanz einer vorbeigehenden Katze. Noch nicht! Mein Gott, nein … Ich konnte doch nicht ohne weiteres zulassen, daß sie mich einfach so mitnahmen, für einen unbefristeten Zeitraum, weg von allem, was mir vertraut war. In diesem Augenblick durchlebte ich das typische Totenbett-Syndrom – überall lose Enden, all die Kleinigkeiten, die man unbedingt noch in Ordnung bringen sollte, bevor man geht: Briefe schreiben, Kontoauszüge holen, das Buch auf dem Nachttisch zu Ende lesen … Wenn ich jetzt das Semester schleifen ließ, dann würde mich das in einen akademischen und finanziellen Ruin stürzen – und wer würde mir diese Erklärung schon abkaufen? Nein. Daß sie mich mitnahmen, konnte ich unmöglich zulassen. Aber die samtenen Schatten kamen bereits wieder näher. Ich mußte mich beeilen.
„Tut mir leid“, konnte ich eben noch hervorstoßen, „aber das ist unmöglich. Ich kann nicht mitgehen …“
„Ich fürchte, Sie müssen. Das ist eine absolute Notwendigkeit“, sagte er.
„Nein“, sagte ich, langsam panisch, wobei ich gegen das Schlafen ankämpfte. „Nein, das … können Sie mir nicht antun.“
„Ich glaube, in Ihrem eigenen Rechtswesen existiert eine vergleichbare Maßnahme. Man nennt es ‚Schutzhaft’.“
„Und was ist mit Artikel 7224, Absatz C?“ keuchte ich. Ich spürte, wie meine Redeweise schleppend wurde, während mir die Augen zufielen.
„Was haben Sie gesagt?“
„Das haben Sie genau verstanden“, murrte ich. „Sieben … zwo … zwo … vier, Ab … satz … C … Das ist der Grund für …“
Und dann, wieder einmal, nichts.
Mehrere Zyklen der Wahrnehmung brachten mich in die nächste Nähe dessen, was man als ‚bei Bewußtsein’ bezeichnet – aber es verging eine gewisse Zeit, bis ich voll wach war. Mein so erreichtes Wachsein verbrachte ich zunächst mit dem Betrachten Kaliforniens. Es dauerte jedoch seine Zeit, bis ich auf den herrschenden Streit aufmerksam wurde, der in einer verhaltenen, fast akademischen Weise ausgetragen wurde. Sie ereiferten sich über eine meiner Bemerkungen.
Oh, ja …
Artikel 7224, Absatz C. Das hatte, so erinnerte ich mich, etwas zu tun mit dem Abtransport intelligenter Wesen von ihrem Heimatplaneten ohne deren Erlaubnis. Teil eines intergalaktischen Kidnappings, bei dem die Welt meiner Retter ihre Finger im Spiel hatte, das kam einer interstellaren Verschwörung schon sehr nahe. In der gegenwärtigen Situation gab es aber auch wahrlich genügend viele Dinge, über die man geteilter Meinung sein konnte: etwa über das Entführen intelligenter Lebewesen, die das überhaupt nicht haben wollten, über Quarantäne zum Schutz der betreffenden Spezies, über nichtmilitärische Repressalien bei Rechtsverletzungen, über Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit der galaktischen Population und noch viele andere Themen aus diesem Komplex, die sie alle mit großer Breite durchdiskutierten. Offensichtlich hatte ich ein delikates Thema berührt, ganz besonders im Licht ihres erst kurze Zeit zurückliegenden Erstkontaktes mit der Erde. Ragma beharrte darauf, daß sie, wenn sie mich unter Berufung auf eine Ausnahmesituation mitnahmen, volle Rückendeckung ihrer Vorgesetzten haben würden. Wenn es je zu einem Punkt kommen sollte, wo eine Adjudikation notwendig wurde, und wenn das dann später ans Tageslicht kam, dann, so meinte Charv, würde man ihnen ihre Gesetzesinterpretation nicht so einfach durchgehen lassen; wahrscheinlich würde man sie sogar aus ihrem Job als trainierte Spezialisten zum Bodenpersonal versetzen. Mittlerweile versteifte Charv sich aber zu der Meinung, keine der Ausnahmeregelungen würde auf ihre Situation zutreffen, und es wäre nur zu offensichtlich, was sie getan hatten. Es wäre besser, entschied er, den telepathischen Analytiker, den sie konsultieren wollten, den Wunsch zur Kooperation in meinen Verstand implantieren zu lassen. Er war sicher, daß es einige gab, die ihr Problem auf diese Weise lösen konnten. Das aber erzürnte Ragma. Das sei sowohl eine klare Verletzung meiner Rechte unter einem anderen Vorzeichen als auch die Verschleierung ihrer eigenen Übertretungen. An so etwas wolle er nicht teilhaben. Wenn sie mich schon verschleppten, dann wolle er eine ordentliche Verteidigung, keine Verschleierung ihrer Tat. Also gingen sie alle Ausnahmesituationen noch einmal durch, jedes Wort sorgfältig abwägend. Sie sprachen frühere Präzedenzfälle durch, wobei ihr Tonfall immer an Jesuiten, Talmudisten, Wörterbuchherausgeber oder Jünger des Neuen Kritizismus erinnerte, je nachdem. Wir umkreisten immer noch die Erde.