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„Richtig. Und dann fielen mir einige Abfallstücke im Papierkorb neben dem Regal auf. Ich nahm das am besten aussehendste Stück heraus und hielt es gegen das Licht. Es war ein hübsches Ding, wie die anderen auch. Paul lächelte, als er sah, daß ich es in den Händen hielt, dann sagte er: ,Gefällt es Ihnen?’ Ich sagte: ‚Ja.’ ,Behalten Sie es’, sagte er.“

„Und das hast du getan. So habe ich es auch in Erinnerung.“

„Ja, aber die Sache hatte einen Haken“, sagte er. „Ich habe den Stein mit an den Tisch genommen und neben mein Geld gelegt, so daß ich ihn jedesmal ansehen mußte, wenn ich eine Münze nahm. Nach einer Weile fiel mir so ein winziger Fehler auf, eine kleine Unebenheit an der Basis eines der Auswüchse. Das war vollkommen unerheblich, doch es ärgerte mich mit jedem Hinsehen mehr. Daher habe ich, als ihr beide den Raum verlassen hattet, um mehr Bier zu holen, das Ding mit einem der Steine vom Regal vertauscht.“

„Ich beginne zu verstehen.“

„Ja, ja, ich weiß! Das hätte ich wahrscheinlich nicht tun sollen. Aber damals sah ich eben nichts grundlegend Schlechtes darin. Es waren einfach Souvenir-Prototypen, mit denen er herumspielte, und die Differenz fiel kaum auf, wenn man nicht genau hinsah.“

„Ihm war es gleich beim ersten Betrachten aufgefallen.“

„Was ihm einen guten Grund gab, die anderen als perfekt zu betrachten und nicht noch einmal nachzusehen. Zudem, was machte es denn wirklich für einen Unterschied? Bei sechs gleichen Gebilden kann das doch keine Rolle spielen!“

„Klingt plausibel, da gebe ich dir recht. Aber Tatsache ist, er hat es nachgeprüft – und es scheint, als seien sie wichtiger gewesen, als er zuzugeben bereit war. Ich frage mich, warum?“

„Ich habe eine ganze Menge nachgedacht“, sagte er. „Das erste, was mir einfiel, war, daß er die Geschichte mit den Souvenirs nur erfunden hatte, weil wir die Dinger gesehen hatten und er uns eben eine plausible Story auftischen mußte. Angenommen, jemand von der UN hat ihn gebeten, ein Modell – mehrere Modelle – für sie herzustellen? Das Original ist von unschätzbarem Wert, unersetzlich und der Öffentlichkeit immer zugänglich. Um es vor einem Diebstahl oder vor jemandem mit einem Bohrer oder einem Hammer zu bewahren, wäre es das vernünftigste gewesen, es wegzuschließen und statt dessen ein Kopie auszustellen. Paul wäre die beste und logische Wahl für diese Aufgabe gewesen. Wann auch immer jemand etwas von der Kristallographie erzählt, dann wird sein Name erwähnt.“

„Teile davon könnte ich dir abkaufen“, sagte ich. „Aber das Ganze paßt nicht zusammen. Warum sollte er sich über ein mangelhaftes Exemplar so ereifern, wenn er doch ganz einfach ein neues Modell hätte anfertigen können? Warum kann er das eine, das wir verloren haben, nicht einfach abschreiben?“

„Aus Sicherheitsgründen.“

„Wenn dem so wäre, dann hätten wir kaum eine Gefahr dargestellt. Warum sollte er uns angreifen und uns darauf aufmerksam machen, wo wir doch gerade dabei waren, das Ding zu vergessen?“

„Also gut, was dann?“

Ich zuckte die Achseln.

„Unzureichende Daten“, sagte ich aufstehend. „Solltest du dich entschließen, die Polizei zu rufen, dann vergiß nicht, ihnen zu sagen, daß das Ding, nach dem er sucht, etwas ist, das du ihm gestohlen hast.“

„Hui, Fred, das war ein Schlag unter die Gürtellinie.“

„Trotzdem stimmt es. Ich frage mich, was das Ding für einen besonderen Wert gehabt hat. Ich frage mich, wo sie die Deliktsgrenze ansetzen werden.“

„Na schön, du hast gesagt, was du sagen wolltest. Und was willst du jetzt tun?“

Ich zuckte die Achseln. „Nichts, schätze ich. Abwarten und sehen, was passiert, nehme ich an. Laß es mich wissen, wenn dir noch etwas einfällt.“

„Gut. Wirst du dasselbe tun?“

„Ja.“

Ich ging zur Tür.

„Möchtest du auch wirklich nicht zum Essen bleiben?“ fragte er.

„Nein, danke. Ich muß los.“

„Bis später also.“

„Schon recht. Nimm’s nicht so schwer.“

Ich ging an einer dunklen Bäckerei vorüber. Lichter spielten auf der nachtschwarzen Scheibe. KANNST DU MICH SCHMECKEN, BRED? las ich. Ich zögerte, wandte mich um, sah, wo Schatten das Schild der Bäckerei anagrammisiert hatten, schniefte und eilte weiter.

Scherben und Bruchstücke …

Kurz vor Mitternacht probierte ich eine neue Route aus: die Kathedrale hoch. Ich dachte mir, nach alledem hätte ich mir eine kleine Extra-Belohnung verdient. Als ich näher kam, erkannte ich Professor Dobson an der Spitze eines Strebepfeilers. Er war schon wieder betrunken und zählte die Sterne, dachte ich.

Ich kletterte weiter, bis ich auf einem nahe gelegenen Sims zur Ruhe kam.

„Guten Abend, Professor.“

„Hallo, Fred. Ja, das ist er auch, nicht wahr? Ein wundervoller Abend. Ich hoffte, Sie würden hier vorbeikommen. Was zu trinken?“

„Geringe Toleranz“, sagte ich. „Ich vertrage nicht viel.“

„Aber das ist eine besondere Gelegenheit“, drängte er.

„Also gut, ein kleines bißchen.“

Ich nahm die Flasche, die er mir hinhielt, und nippte.

„Gut. Sehr gut“, sagte ich. „Was ist es denn? Und was ist der Anlaß?“

„Ein ganz besonderer Cognac, den ich schon seit über zwanzig Jahren aufgehoben habe, nur für diese Nacht. Die Sterne haben endlich auf ihren feurigen Routen die gewünschten Konstellationen erreicht, ihre eleganten Positionen sprechen ein gutes Omen aus.“

„Was meinen Sie damit?“

„Ich ziehe mich zurück. Ich werde aus diesem lausigen Teufelskreis ausbrechen.“

„0h, meinen Glückwunsch. Das wußte ich nicht.“

„Das lag in meiner Absicht. Ich kann formelle Verabschiedungen nicht ertragen. Es sind nur noch ein paar lose Enden zu verknüpfen, dann kann ich gehen. Nächste Woche vielleicht.“

„Nun, ich hoffe, Sie gehen glücklichen Zeiten entgegen. Ich treffe nicht oft jemanden, der meine Interessen so teilt wie Sie. Ich werde Sie vermissen.“

Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche, nickte, sagte aber nichts. Ich zündete mir eine Zigarette an, ließ meinen Blick über die schlafende Stadt schweifen, dann hinauf zu den Sternen. Die Luft war kühl, die Brise mehr als nur ein wenig klamm. Leiser Verkehrslärm drang herauf, fern, wie von Insekten. Gelegentlich störte eine Fledermaus meinen Blick zum Himmelszelt.

„Alkaid, Mizar, Alioth“, murmelte ich, „Megrez, Phecda…“

„Merak und Dubhe“, sagte er, womit er den Großen Bären vervollständigte und mich gleichzeitig verblüffte, zum einen, weil er mein Murmeln verstanden hatte, zum anderen, weil er den Rest kannte.

„Wieder da, wo ich sie vor so vielen Jahren zurückließ“, fuhr er fort. „Seltsame Gefühle durchströmen mich – angesichts dessen, was ich heute nacht analysieren möchte. Haben Sie jemals zurückgeblickt auf einen Moment Ihrer Vergangenheit, der plötzlich so lebendig geworden ist, daß alle dazwischen liegenden Jahre traumhaft und unbedeutend erschienen, die überströmenden Gefühle eines Mainachmittags zu bloßer Routine herabsanken?“

„Nein“, sagte ich.

„Eines Tages, wenn es Ihnen so geht, dann vergessen Sie nicht – den Cognac“, sagte er, nahm einen weiteren Schluck, dann gab er mir die Flasche.

Ich nippte und gab sie ihm zurück.

„Tausende von Tagen ziehen sie schon da oben hin“, fuhr er fort. „Auf ihren vorherbestimmten Bahnen. Intellektuell weiß ich das alles, aber etwas anderes in mir will es unaufhörlich verleugnen. Teilweise ist mir das alles klar, weil ich mir des Unterschiedes zwischen dieser frühen Zeit und der Gegenwart wohl bewußt bin. Dieser Wechsel war kumulativ. Weltraumfahrt, Städte unter dem Meeresboden, die Fortschritte in der Medizin – auch unser erster Kontakt mit den Außerirdischen, all diese Dinge passierten zu verschiedenen Zeiten, und alles andere schien unverändert, als sie geschahen. Alles ging seinen geregelten Gang. Das Leben war hinterher immer noch dasselbe, abgesehen von der stattgefundenen Neuerung. Dann wieder eine Veränderung, zu einem anderen Zeitpunkt. Dann wieder eine. Keine massive Revolution. Es war ein kontinuierlicher Prozeß. Dann ist ein Mann plötzlich bereit, sich zurückzuziehen, abzutreten, und das gibt Raum für Reflektionen. Er blickt zurück, zurück nach Cambridge, wo ein junger Mann auf ein Gebäude klettert. Er sieht diese Sterne. Er fühlt die Beschaffenheit des Daches. Alles Folgende ist ein rasender Traum, ein einfarbiges Kaleidoskop. Er ist hier, und er ist dort. Alles andere ist irreal. Aber es sind zwei Welten, Fred – zwei vollkommen andere Welten –, und er hat das niemals gesehen, er hat keine jemals wirklich im Akt des Geschehens erlebt. Dieses Gefühl erfüllt mich in der heutigen Nacht.“