„Offensichtlich“, pflichtete er mir bei. „Sagen Sie“, meinte er dann, zu den höheren Abschnitten der Kathedrale deutend, „werden Sie auch den Rest der Strecke heute nacht erklimmen?“
„Wahrscheinlich, in kurzer Zeit. Wollen Sie gleich gehen?“
„Oh, nein, ich war einfach nur neugierig. Sie gehen üblicherweise jeden Weg bis zum Gipfel, nicht wahr?“
„Ja. Sie nicht?“
„Nicht immer. In letzter Zeit halte ich mich mehr an die mittleren Höhen. Der Grund meiner Frage war: Ich wollte herausfinden, ob sie in philosophischer Stimmung sind.“
„Im Prinzip, ja.“
„Also gut. Dann sagen Sie mir, was Sie fühlen, wenn Sie am Gipfel angekommen sind.“
„Stolz, würde ich sagen. Eine Art von Selbstzufriedenheit.“
„Hier oben ist die Sicht wesentlich freier. Sie können weiter sehen, die Einzelheiten der Landschaft besser in sich aufnehmen. Ist es das, frage ich mich? Eine bessere Perspektive?“
„Teilweise vielleicht schon. Aber da ist auch immer noch ein anderes Gefühl, das mich überkommt, wenn ich am Gipfel bin: Ich möchte immer noch ein kleines Stückchen höher klettern, und jedesmal fühle ich, ich könnte es fast, ich stünde kurz davor.“
„Ja, das ist richtig“, sagte er.
„Warum fragen Sie?“
„Ich weiß es nicht. Um mich erinnern zu lassen, nehme ich an. Der Junge damals in Cambridge hätte wohl dasselbe gesagt wie Sie heute, aber ich selbst hatte es partiell vergessen. Nicht nur die Welt hat sich verändert.“
Er trank wieder einen Schluck.
„Ich frage mich“, sagte er, „wie es wirklich war? Der erste Kontakt mit den Außerirdischen – dort draußen? Schwer zu glauben, daß seitdem schon mehrere Jahre verstrichen sind. Die Regierungen haben die Geschichte zudem ganz offensichtlich getürkt, daher werden wir wahrscheinlich nie erfahren, wie sich alles wirklich abgespielt hat. Eine reine Koinzidenz, keiner war vertraut mit dem System, in dem wir uns trafen. Wir beide waren auf Erkundung aus, das ist alles. Wobei sie wahrscheinlich nicht so geschockt waren wie wir, da sie ja Kontakt mit allen möglichen Rassen hatten. Trotzdem … ich erinnere mich an die unerwartete Rückkehr. Mission beendet. Dem Schulwissen ein halbes Jahrhundert voraus. Begleitet von einem Aufklärer der Astabiganer. Wenn ein Objekt die Lichtgeschwindigkeit erreicht, dann verwandelt es sich in einen Kürbis. Das wußte damals jeder. Aber die Außerirdischen hatten einen Weg gefunden, das Kürbis-Phänomen zu umgehen, sie tricksten den Weltraum aus, indem sie einen Tunnel schufen und unser Schiff mit sich nahmen. Die mathematischen Fakultäten bekamen jedenfalls eine Menge zum Nachdenken und Grübeln. Seltsames Gefühl. Ich hatte immer gedacht, wir müßten uns unseren Weg an einem aalglatten Zylinder oder einer Kugel hocharbeiten, langsam, Stück für Stück, um dann, oben angekommen, zu sehen, daß wir nicht die ersten sind, daß bereits jemand da ist. Wir hätten dann einer galaktischen Föderation beitreten können, einer losen Konföderation von Rassen, die schon seit Jahrmillionen existiert. Dieser Weg hätte gut und gerne einige Jahrhunderte in Anspruch nehmen können. Oder auch nicht. Vielleicht hatten wir Glück. Meine Gefühle waren – und sind es noch – gemischt. Wie kann man denn noch ein Stückchen höher gelangen, nach einem derartigen Anti-Klimakterium? Sie haben uns das nötige Fachwissen vermittelt, um selbst Überlichtraumer bauen zu können. Außerdem haben sie uns gehörig vor den intergalaktischen Spekulanten gewarnt. Sie gewährten uns einen Platz in ihrem Austauschprogramm, obwohl wir ihnen nur vergleichsweise wenig dafür zu bieten hatten. Im Lauf der Zeit werden die Veränderungen immer häufiger vonstatten gehen. Bis die Welt sich eines Tages mit spürbarem Tempo zu verändern beginnt. Was dann? Wenn die Fähigkeit des langsamen Voranschreitens erst einmal ganz verlorengegangen ist, dann wird vielleicht jeder zu einem betrunkenen, nächtlichen Kletterer an einer Kathedralenfassade, dem ein flüchtiger Blick auf die Verzahnungen zwischen dem Hier und dem Damals in Cambridge vergönnt worden ist, oder was auch immer. Was dann? Das Weltall sehen und sterben? Aufs Altenteil zurückziehen? Alkaid, Mizar, Alioth, Megrez, Phecda, Merak und Dubhe … Sie waren schon da. Sie kennen sie. Vielleicht wünsche ich mir, ganz tief drinnen, wir wären die einzigen im Kosmos – um das alles für uns selbst zu haben. Oder alle Außerirdischen, denen wir begegnen, würden uns in allem ein klein wenig hinterherhinken. Stolz, selbstsüchtig, selbstgefällig … sicher. Nun, aber leider sind wir die Hinterwäldler. Gott stehe uns bei! Ah, noch genug da, um auf unser Wohl zu trinken. Gut! Na also! Ich spucke der Zeit ins Gesicht, weil sie mich so hintergangen hat!“
Mir fiel nichts ein, was ich darauf hätte sagen können, also sagte ich auch nichts. Ein Teil von mir wollte ihm zustimmen, ein anderer hingegen nicht. Und ein großer Teil von mir wünschte sich, er hätte den Brandy nicht getrunken.
Nach einer Weile sagte er: „Ich werde heute nacht nicht mehr weiterklettern.“ Ich hielt das für eine gute Idee. Auch ich hatte mich gegen eine weitere Betätigung entschieden, daher kreisten und trudelten wir abwärts, immer tiefer und tiefer, bis ich den guten Mann zu Hause abgeliefert hatte.
Scherben und Fragmente. Fragmente …
Kurz bevor ich heimkam, erwischte ich noch eine Ausgabe der Spätnachrichten. Eine nebulöse Meldung drehte sich um einen gewissen Paul Byler, Professor der Geologie, der am frühen Abend von Vandalen im Central Park ermordet worden war. Vandalen, die ihm, zusätzlich zu dem ganzen Geld, das er bei sich gehabt haben mochte, auch noch Herz, Leber, Nieren und die Lunge herausgerissen hatten.
Ein Aufwallen jenes dunklen Teiches direkt über dem Ansatz des Rückgrates überflutete mich später mit Träumen, welche, flüchtig wie die Wogen der See, die Tiefen meines Bewußtseins kräuselten und wieder verwehten, abgesehen von dem kinästhetischen/synästhetischen „KANNST DU MICH FÜHLEN, LED?“, das eine unermeßliche Zeitspanne länger als alles andere vorgehalten haben muß, denn viel später fiel es mir bei der morgendlichen Tasse Kaffee wieder ein, ein vorüberrauschender Farbenstrom in meinem Gedächtnis.
3
Sonnenlicht, Wassergischt, Finsternis. Sternentanz.
Phaetons stabiler goldener Cadillac explodierte, wo zu hören kein Ohr vorhanden war, lag brennend, ging aus. Wie ich.
Jedenfalls war es Nacht, als ich wieder zu mir kam, und ich war ein Wrack.
So daliegend, gefesselt mit Strohschnüren, mit gespreizten Gliedmaßen, Sand und Kies als Matratze wie auch als Kissen, Staub in Mund, Nase, Augen und Ohren, von Ungeziefer geplagt, durstig, zerschlagen, hungrig und zitternd, dachte ich über die Worte meines früheren Studienberaters Merimee nach: „Sie sind ein lebendes Beispiel für die Absurdität der Dinge.“
Unnötig zu erwähnen, daß sein Spezialgebiet der französische Roman Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war. Noch immer, noch immer durchbohrten mich diese hinter einer Brille abgefeuerten Blicke wie Speere. Ungeachtet seines Abschieds von der Universität, einem skandalumwölkten Abschied, in den ein Mädchen, ein Zwerg und ein Esel verwickelt waren – oder vielleicht gerade deswegen – hat Merimee sich einen festen Platz in meinem privaten Kosmos erobert, und seine Worte tauchen oftmals wieder in meinem Gedächtnis auf, wenn auch in anderem Zusammenhang als in meinem Aufnahmegespräch. Der heiße Sand hatte sie mir schon den ganzen Nachmittag zugeschrien, dann hatte die kühle Brise der Nacht sie mir zugeflüstert, durch die Öffnungen meiner Ohren: „Sie sind ein lebendes Beispiel für die Absurdität der Dinge.“
Offen für eine Vielzahl von Interpretationen, wenn man genauer darüber nachdenkt, und ich hatte jede Menge Zeit, dies zu tun. Einerseits konnte ich mich vielleicht für eine Möglichkeit entscheiden. Vielleicht für das Leben. Oder, andererseits, vielleicht auch für das Absurde.