Amy Dawson, die Krankenschwester, die Derek Nicholson wochentags betreut hatte, lebte mit ihrem Ehemann, zwei jugendlichen Töchtern und einem kleinen Kläffer namens Screamer in einem anderthalbgeschossigen Haus mit vier Zimmern. Das Haus lag in Lennox im Südwesten von Los Angeles in einer ruhigen Straße hinter einer Ladenzeile.
Amy hatte ihre Stelle als Nicholsons Pflegerin wenige Tage nach dessen Krebsdiagnose angetreten.
Als Garcia endlich in Amys Straße einbog, zeigte das Thermometer am Armaturenbrett eine Außentemperatur von einunddreißig Grad an. Er parkte am gegenüberliegenden Straßenrand, und sie wagten sich hinaus aus dem Wagen, hinein in die schwüle Hitze. Die Sonne brannte auf ihren Gesichtern.
Das Haus sah alt aus. Regen und Sonne hatten die Farbe an Fensterrahmen und Tür verwittern lassen. Der Maschendrahtzaun, der das Grundstück umgab, war rostig und an mehreren Stellen verbogen. Dem kleinen Vorgarten hätte ein wenig Pflege gutgetan.
Hunter klopfte dreimal, woraufhin aus den Tiefen des Hauses sofort aufgeregtes Hundegebell ertönte. Nicht das laute, tiefe Bellen, das einen Einbrecher in die Flucht geschlagen hätte, sondern ein hohes, nervtötendes Kläffen, von dem man innerhalb kürzester Zeit Kopfschmerzen bekam. Und Hunter hatte bereits Kopfschmerzen.
»Sei still, Screamer«, rief eine Frauenstimme, und nach einer Weile verstummte der Hund. Eine Afroamerikanerin mit rundem Gesicht, katzenhaften Augen und Cornrows im Haar öffnete ihnen die Tür. Sie war etwa eins fünfundsechzig groß, und der dünne Stoff ihres Sommerkleids spannte sich über ihren üppigen Rundungen. Amy Dawson war zweiundfünfzig Jahre alt, doch ihr freundliches Gesicht sah aus wie das eines Menschen, der länger gelebt und mehr als seinen Anteil an Kummer gesehen hatte.
»Mrs Dawson?«, fragte Hunter.
»Ja?« Sie blinzelte hinter ihrer schmalen Lesebrille hervor. »Ach, Sie müssen der Mann von der Polizei sein, der vorhin angerufen hat?« Ihre Stimme war rauchig, aber sanft.
»Ich bin Detective Hunter, und das ist Detective Garcia.«
Sie ließ sich ihre Dienstmarken zeigen, bevor sie mit einem höflichen Lächeln die Haustür vollständig aufzog. »Bitte, kommen Sie doch rein.«
Als sie eintraten, fing Screamer von seinem Platz unter einem Tisch aus erneut an zu bellen. »Ich sage es dir nicht noch mal, Screamer. Sei still, und ab mit dir.« Amy zeigte zu einer Tür auf der anderen Seite des Wohnzimmers. Der kleine Hund flitzte hindurch und verschwand in einem schmalen Flur. Aus der Küche kam ihnen der Duft frisch gebackenen Kuchens entgegen und erfüllte das ganze Haus. »Bitte, machen Sie es sich bequem.« Sie wies in Richtung des kleinen düsteren Wohnzimmers. Hunter und Garcia nahmen auf dem mintgrünen abgesteppten Sofa Platz, während Amy sich ihnen gegenüber in einen Sessel setzte.
»Möchten Sie vielleicht einen Eistee?«, fragte sie. »Es ist ganz schön heiß da draußen.«
»Das wäre großartig«, antwortete Hunter. »Haben Sie vielen Dank.«
Amy ging in die Küche und kehrte wenig später mit einem Tablett zurück, auf dem eine Aluminiumkanne und drei Gläser standen.
»Ich kann gar nicht glauben, dass irgendjemand Mr Nicholson nach dem Leben trachten würde«, sagte sie, als sie die Getränke herumreichte. In ihren Worten lag Trauer.
»Was passiert ist, tut uns sehr leid, Mrs Dawson.«
»Bitte nennen Sie mich Amy.« Sie schenkte den beiden Detectives ein mattes Lächeln.
Hunter erwiderte es. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns zu sprechen, Amy.«
Sie starrte in ihr Glas. »Wer würde einem sterbenden Krebspatienten so was antun? Das ist doch unbegreiflich.« Ihr Blick traf den Hunters. »Mir wurde gesagt, dass es kein Einbrecher gewesen ist.«
»Das stimmt«, bestätigte er.
»Er war so ein netter, freundlicher Mann, und jetzt ist er in besseren Händen, das weiß ich.« Ihr Blick ging zur Decke. »Möge er in Frieden ruhen.«
Dass Amy so gefasst schien, überraschte Hunter kaum. Sie kannte die abscheulichen Einzelheiten der Tat nicht. Außerdem hatte Hunter ihren Hintergrund überprüft: Amy arbeitete seit siebenundzwanzig Jahren als Krankenschwester, achtzehn davon in der häuslichen Pflege schwer krebskranker Patienten. Sie erfüllte ihre Aufgabe gewissenhaft und gründlich, und trotzdem starben all ihre Patienten unweigerlich. Sie war den Tod gewohnt und hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen.
»Sie haben sich unter der Woche um Mr Nicholson gekümmert, ist das richtig?«, fragte Garcia.
»Montags bis freitags, ja.«
»Haben Sie in demselben Zimmer gewohnt wie Melinda Wallis, die Pflegeschülerin, die am Wochenende da war?«
Amy schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Mel hat die Gästewohnung über der Garage genutzt. Ich hatte ein Zimmer direkt im Haus. Von Mr Nicholsons Schlafzimmer aus gesehen das übernächste.«
»Wir haben uns sagen lassen, dass Mr Nicholsons Töchter ihn jeden Tag besucht haben?«
»Das stimmt, immer wenigstens für ein paar Stunden. Manchmal vormittags, manchmal auch nachmittags oder abends, je nachdem.«
»Hatte Mr Nicholson in der letzten Zeit noch andere Besucher?«
»In der letzten Zeit nicht, nein.«
»Irgendwann früher?«, hakte Garcia nach.
Amy dachte einen Augenblick lang nach. »Kurz nachdem ich bei ihm angefangen hatte, ja. Ich kann mich nur noch an zwei Leute erinnern. Das war gleich in den ersten Wochen. Sobald sich dann die ersten Symptome bemerkbar gemacht haben, sind keine Besucher mehr gekommen. Hauptsächlich deshalb, weil er selbst niemanden mehr sehen wollte. Er war sehr stolz.«
»Diese Besucher, können Sie uns mehr über sie verraten?«, fragte Garcia. »Wissen Sie, wer sie waren?«
»Nein. Aber sie haben ausgesehen wie Anwälte. Sie wissen schon, schicke Anzüge und so weiter. Arbeitskollegen, vermute ich mal.«
»Wissen Sie noch, worüber sie geredet haben?«
Diese Frage brachte Garcia einen empörten Blick ein. »Ich war nicht mit im Zimmer, und ich belausche auch nicht die Gespräche anderer Leute.«
»Ich bitte um Entschuldigung, so war das nicht gemeint«, beeilte sich Garcia zu sagen. »Ich wollte bloß wissen, ob Mr Nicholson Ihnen gegenüber etwas erwähnt hat.«
Amy schenkte Garcia ein dünnes Lächeln zum Zeichen, dass sie seine Entschuldigung annahm. »Wollen Sie die Wahrheit wissen? Es wird nie viel geredet, wenn Krebskranke Besuch bekommen. Egal wie gesprächig die Leute sind, sobald sie sehen, was die Krankheit aus ihren Freunden oder Verwandten gemacht hat, wissen sie nicht mehr, was sie sagen sollen. Die meisten stehen einfach nur da und schweigen und versuchen, nicht die Fassung zu verlieren. Wenn man weiß, dass jemand bald sterben wird, fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden.«
Hunter schwieg. Er wusste genau, wovon Amy Dawson sprach. Er war erst sieben gewesen, als bei seiner Mutter Glioblastoma multiforme, eine besonders aggressive Form des Gehirntumors, diagnostiziert worden war. Als die Ärzte den Tumor entdeckten, war er bereits so groß, dass eine Operation nicht mehr in Betracht kam. Innerhalb weniger Wochen verwandelte sich seine Mutter von einem lachenden, lebensfrohen Menschen in ein ausgezehrtes Gerippe, das man kaum noch wiedererkannte. Nie würde Hunter vergessen, wie sein Vater mit Tränen in den Augen neben ihrem Bett gestanden hatte, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Er hatte einfach nicht gewusst, was er sagen sollte.
»Können Sie sich noch an ihre Namen erinnern?«, bohrte Garcia weiter.
Amy überlegte lange und gründlich. »Tja, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher. Aber ich weiß noch, wie ich bei dem Ersten, der zu Besuch kam, gedacht habe, dass es jemand Wichtiges sein muss. Er hatte einen großen Mercedes mit Chauffeur und allem.«