Miguel Jalmar war Kunstsammler, Galeriebesitzer und einer der namhaftesten Experten für zeitgenössische Plastik. Er hatte bereits als Kind seine Leidenschaft für Kunst entdeckt und als Jugendlicher mit dem Sammeln begonnen.
»Alice, mein Täubchen«, rief Miguel mit Falsettstimme, kaum dass Alice und Hunter seine Galerie betreten hatten. Er legte das Buch hin, in dem er gerade las, und sprang von seinem Stuhl auf.
Miguel war Mitte vierzig, groß, schlank und hatte glatte mitternachtsschwarze Haare, die ihm bis auf die Brust reichten. Er trug einen Anzug von Dolce & Gabbana, hatte einen modischen Dreitagebart und teures Eau de Toilette aufgelegt. Er umarmte Alice, als hätte er in ihr seine lang verschollene Schwester wiedergefunden, und tupfte ihr Küsschen auf beide Wangen.
»Danke, dass du so kurzfristig Zeit für uns hattest, Miguel«, sagte Alice und befreite sich aus seinen Armen. »Das wissen wir wirklich zu schätzen.«
»Für dich tue ich alles, meine Liebe, das weißt du doch.« Seine Tonlage war jetzt deutlich tiefer, das Feminine in seiner Stimme aber war geblieben. Sein Blick glitt zu Hunter, und er hob neugierig die Brauen. »Wer ist das? Und noch wichtiger: Wo hast du ihn so lange versteckt gehalten?«
»Das ist Robert Hunter, ein Bekannter von mir.«
Hunter nickte Miguel freundlich lächelnd zu.
»Robert Hunter …? Was für ein starker, männlicher Name. Gefällt mir. Und Allmächtiger, seht euch nur diese breiten Schultern und den Bizeps an! Ich wette, Sie machen Kraftübungen wie ein Bodybuilder.«
Das meinte Alice also mit »exzentrisch«, schoss es Hunter durch den Kopf.
»Oh.« Erst jetzt richtete sich Miguels Aufmerksamkeit auf das Paket, das Hunter unter dem Arm trug. »Ist das das Objekt, das ich mir ansehen soll?«
»Genau.«
»Dann kommt mit in mein Büro.«
In Miguels Büro prallten alle möglichen Epochen und Stilrichtungen aufeinander. Die wilde Mischung aus Modernem und Antikem hätte eigentlich schauderhaft aussehen müssen, wirkte aber trotzdem irgendwie stimmig. Skulpturen jeder nur erdenklichen Art und Größe standen überall im Raum verteilt. An den Wänden hingen Masken, auf dem Boden lagen Teppiche im Zebramuster, und die schwarze Ledercouch hatte einen Überwurf mit Tigerstreifen und Kissen aus Leopardenfellimitat.
»Am besten stellen wir sie dorthin.« Miguel deutete auf einen Couchtisch und räumte die beiden Statuetten beiseite, die darauf standen. Hunter stellte das Paket ab und zog die schwarze Plastikumhüllung herunter.
»Ach du liebe Zeit!« Miguel griff in seine Sakkotasche und fischte seine Brille hervor. »Wow. Das ist …« Er hielt inne und sah Hunter fragend an. »Haben Sie das gemacht, mein Lieber?«
»Nein.«
»Gut. In dem Fall kann ich es ja sagen: Es ist absolut grotesk.« Miguel ging um die Skulptur herum und betrachtete sie von allen Seiten. Dann blieb er stehen und verzog das Gesicht. »Sollen das menschliche Gliedmaßen sein?«
Alice nickte. »Sieht ganz so aus.«
»So was Krankes und Widerwärtiges habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Aber kreativ ist es, das muss man dem Künstler lassen. Eine dieser verrückten Arbeiten, bei denen sich alle fragen, was zum Kuckuck sie überhaupt darstellen sollen, und die dann in London den Turner Prize gewinnen. Mir ist schleierhaft, worauf die Juroren da drüben abfahren.«
»Haben Sie so was Ähnliches schon mal gesehen?«, wollte Hunter wissen.
»Nur in meinen Alpträumen, Darling.« Miguel war in die Hocke gegangen und betrachtete mit schiefgelegtem Kopf einen der Füße am Rand der Skulptur. »Wer ist der Künstler?«
»Ich weiß nicht, ob man ihn so nennen sollte«, entschlüpfte es Alice. Sie bereute es sofort.
Miguel sah zu ihr auf.
»Wir wissen es nicht«, beeilte sich Hunter zu sagen. »Aber ich würde es zu gerne erfahren.«
»Sammeln Sie?«
»Könnte man so sagen«, antwortete Hunter vage. »Allerdings noch nicht lange.«
»Dann sollten wir uns vielleicht mal abends zusammensetzen und ein wenig über Kunst und … andere Dinge plaudern.« Miguel strahlte. »Das wäre doch großartig. Ich könnte Ihnen ein paar Tipps geben.«
»Es ist eine sehr faszinierende Arbeit«, sagte Hunter, um das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zu lenken. »Sie haben Erfahrung, Miguel. Was, denken Sie, will der Künstler damit ausdrücken?«
Miguel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Skulptur. »Ehrlich gesagt bin ich ein wenig verwirrt. Einerseits neige ich zu der Vermutung, dass dies nicht das erste Werk des Künstlers ist.«
»Wieso nicht?«
»Die Komposition, die kreative Kraft, das Kompromisslose – all das verrät jemanden mit viel Erfahrung im Bereich Bildhauerei. Jemanden, dem es vollkommen gleichgültig ist, was andere denken. Der seine Kunst ohne Scheu zur Schau stellt, ganz egal, wen er damit vor den Kopf stößt. Aber andererseits ist die Skulptur in Gips ausgeführt, und das ist unsäglich amateurhaft. Niemand arbeitet heutzutage noch in Gips. Und falls er vorhat, das Objekt zu verkaufen, sollte er sich wirklich überlegen, ob er nicht noch ein bisschen Farbe ins Spiel bringen will. Vielleicht einige Akzente in Blutrot, passend zum Thema.« Miguel erhob sich aus der Hocke, trat ein paar Schritte zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber er ist ein kühner, provokanter Geist, der keine Angst hat, Konventionen zu sprengen. Und das gefällt mir. Er hat ganz ohne Zweifel eine Botschaft.«
»Und was für eine?«, fragte Alice.
Miguel steckte seine Brille zurück in die Sakkotasche. »So, wie der Künstler mit dem menschlichen Körper spielt, wie er ihn nach seinem Gutdünken neu zusammensetzt – damit verhöhnt er gewissermaßen die Schöpfung.« Er hob die Schultern. »Was sage ich? Das Ganze ist dermaßen schamlos, dass er vielleicht sogar die Absicht hat, den Schöpfer selbst zu verhöhnen.«
Alice spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. »Willst du behaupten, der Künstler hält sich für Gott?«
Miguel nickte, ohne den Blick von dem bizarren Kunstwerk abzuwenden. »Genau das scheint mir die Aussage des Werks zu sein, mein Täubchen. Ich bin Gott, und ich kann tun und lassen, was ich will.«
21
Auf der Rückfahrt ins PAB machte Hunter noch einen Abstecher zum Büro des Bezirksstaatsanwalts in der West Temple Street. Er hatte Glück: Bezirksstaatsanwalt Bradley kam gerade aus einer dreistündigen Sitzung mit einigen seiner Staatsanwälte.
Bradleys Büro war so groß wie eine kleine Wohnung. Lange, penibel aufgeräumte Bücherregale säumten zwei der vier Wände. Die anderen beiden schmückten Urkunden, Ehrungen, Zertifikate und gerahmte Fotos, die den Bezirksstaatsanwalt bei diversen wichtigen Aktivitäten zeigten: beim Händeschütteln mit Politikern und Prominenten, beim Posieren mit Kollegen auf Zusammenkünften der Anwaltskammer, an Podien beim Redenhalten und dergleichen mehr.
Bradleys Assistentin, eine blutjunge und attraktive dunkelhaarige Frau in einem eleganten, eng sitzenden Kostüm, führte Hunter in Bradleys Büro. Dieser saß hinter seinem imposanten Kanzleischreibtisch aus Mahagoni und wickelte gerade ein Sandwich aus, von dem drei Leute satt geworden wären.
»Detective«, grüßte Bradley und bedeutete Hunter, in einem der drei edlen Ledersessel Platz zu nehmen, die vor dem Schreibtisch arrangiert waren. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich esse, während wir reden? Ich hatte heute noch nichts zum Mittag.«
»Kein Problem.« Hunter schüttelte den Kopf und wählte den Sessel ganz links.
Bradley nahm einen Riesenbissen von seinem Sandwich. Mayonnaise, Ketchup und Senf tropften aufs Einwickelpapier.
»Sie ist nicht schlecht, oder?«, fragte Bradley mit vollen Backen kauend.
»Wie bitte?«
»Alice«, sagte Bradley. »Die Frau, die ich Ihnen geschickt habe. Hat eine Hammerfigur. Und Köpfchen. Die Kombination findet man heutzutage selten. Aber kommen Sie bloß nicht auf dumme Gedanken. Die spielt in einer ganz anderen Liga als Sie.«