»Die reinste Hölle. Sieh zu, dass du herkommst, Robert. So was wie das hier habe ich noch nie gesehen.« Ein kurzes Zögern. »Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch auf der Welt so was schon mal gesehen hat.«
3
Selbst an einem Sonntagmorgen brauchte Hunter für die fünfzehn Meilen zwischen Huntingdon Park und Cheviot Hills annähernd eine Stunde.
Garcia war am Telefon nicht weiter ins Detail gegangen, aber sein offenkundiges Entsetzen und das leichte Stocken in seiner Stimme waren definitiv untypisch.
Hunter und Garcia gehörten innerhalb des Raub-und Morddezernats einer kleinen Sondereinheit an – dem Morddezernat I. Das war dafür eingerichtet worden, um sich ausschließlich mit Serienverbrechen und solchen Morden zu befassen, die stark im Fokus der Öffentlichkeit standen, viel Ermittlungszeit in Anspruch nahmen und spezielles Fachwissen erforderten. Durch Hunters Hintergrund in Kriminalpsychologie kam ihm innerhalb des Dezernats eine ganz besonders wichtige Aufgabe zu. Ungewöhnlich brutale Morde wurden als UV – ultra violent – klassifiziert, dazu gehörten auch solche, bei denen sadistische Gewalt im Spiel war. Robert Hunter und Carlos Garcia bildeten zusammen die UV-Einheit. Entsprechend waren sie nicht leicht zu erschüttern. Sie hatten Dinge gesehen, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen konnten.
Hunter hielt neben einem der zahlreichen schwarzweißen Streifenwagen, die vor dem zweigeschossigen Haus in West L. A. parkten. Die Presse war bereits vor Ort und verstopfte die schmale Straße, doch das überraschte ihn nicht weiter. Es war ganz normal, dass die Journalisten vor den Ermittlern am Tatort eintrafen.
Ein Stoß warmer Luft traf ihn, als er aus seinem alten Buick Lesabre stieg. Während er sich die Jacke aufknöpfte und die Dienstmarke an den Gürtel klemmte, ließ er den Blick langsam in die Runde schweifen. Das Haus lag an einem privaten Zufahrtsweg in einer ruhigen Wohngegend, dennoch war die Schar an Zaungästen, die sich hinter der Polizeiabsperrung versammelt hatte, bereits beträchtlich und wuchs stetig weiter.
Hunter wandte sich dem Haus zu. Es war ein hübscher, zweigeschossiger Backsteinbau mit dunkelblau lackierten Fensterrahmen und Walmdach. Der Vorgarten war groß und gepflegt. Rechts neben dem Haus befand sich eine Doppelgarage, jedoch stand – mit Ausnahme weiterer Streifenwagen – kein Fahrzeug in der Einfahrt. Ein Van der Spurensicherung parkte wenige Meter entfernt. Hunter erspähte Garcia, als dieser durch den Vordereingang aus dem Haus trat. Er trug den klassischen weißen Tyvek-Overall. Mit seinen eins achtundachtzig war er gut fünf Zentimeter größer als Hunter.
Vor den Steinstufen, die von der Veranda in den Garten führten, blieb Garcia stehen und schob sich die Kapuze vom Kopf. Seine langen dunklen Haare waren zu einem glatten Pferdeschwanz zurückgebunden. Auch er hatte seinen Partner schnell entdeckt.
Hunter ignorierte die aufgeregte Pressemeute, zeigte dem uniformierten Officer, der am Rand der Absperrung Wache hielt, seine Marke und duckte sich unter das gelbe Flatterband.
In einer Stadt wie Los Angeles galt folgende Regeclass="underline" Je abscheulicher und blutrünstiger ein Verbrechen, desto glücklicher die Reporter. Die meisten von ihnen kannten Hunter und wussten, in was für Fällen er ermittelte. Ihre Fragen prasselten wie Sperrfeuer auf ihn ein.
»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell«, sagte Garcia und deutete mit dem Kopf auf die Pressemeute, als Hunter zu ihm trat. »Und eine gute Story noch schneller.« Er reichte seinem Partner einen nagelneuen, in Plastik eingeschweißten Overall.
»Wie ist das zu verstehen?« Hunter nahm den Plastikbeutel, riss ihn auf und begann sich einzukleiden.
»Das Opfer war Jurist«, erklärte Garcia. »Ein Mr Derek Nicholson, Staatsanwalt bei der kalifornischen Bezirksstaatsanwaltschaft.«
»Na großartig.«
»Er hat allerdings nicht mehr gearbeitet.«
Hunter zog den Reißverschluss seines Overalls zu.
»Man hatte bei ihm Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert«, fuhr Garcia fort.
Hunter sah ihn neugierig an.
»Er hatte nicht mehr lange zu leben. Sauerstoffgerät, die Beine wollten nicht mehr … Die Ärzte hatten ihm höchstens noch ein halbes Jahr gegeben. Das war vor vier Monaten.«
»Wie alt war er?«
»Fünfzig. Es war kein Geheimnis, dass er im Sterben lag. Warum ihn dann noch auf diese Art und Weise ermorden?«
Hunter überlegte. »Und es besteht kein Zweifel, dass es Mord war?«
»O nein, da besteht absolut kein Zweifel.«
Garcia führte Hunter ins Haus und quer durch die Eingangshalle. An der Wand direkt neben der Haustür befand sich das Bedienfeld einer Alarmanlage. Hunter warf seinem Partner einen fragenden Blick zu.
»Der Alarm war nicht aktiviert«, erklärte dieser. »Wie’s aussieht, haben sie die Anlage nur selten benutzt.«
Hunter verzog das Gesicht.
»Ich weiß«, sagte Garcia. »Wozu hat man dann überhaupt eine?«
Sie gingen weiter.
Im Wohnzimmer waren zwei Leute von der Kriminaltechnik damit beschäftigt, die Treppe im hinteren Bereich des Raums auf Fingerabdrücke zu untersuchen.
»Wer hat die Leiche gefunden?«, wollte Hunter wissen.
»Die Krankenschwester des Toten«, antwortete Garcia und lenkte Hunters Aufmerksamkeit auf eine geöffnete Tür an der östlichen Zimmerseite, durch die man in ein geräumiges Büro gelangte. Darin saß, auf einem alten Ledersofa von Chesterfield, eine junge, ganz in Weiß gekleidete Frau mit Pferdeschwanz. Ihre Augen waren vom Weinen verquollen und rot wie Himbeeren. Sie hatte eine Tasse Kaffee auf den Knien stehen, die sie mit beiden Händen festhielt. Ihr Blick wirkte verloren und starr. Hunter fiel die leichte Schaukelbewegung ihres Oberkörpers auf. Sie stand ganz eindeutig unter Schock. Ein uniformierter Polizist leistete ihr Gesellschaft.
»Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«
»Ja, ich.« Garcia nickte. »Ein paar grundlegende Informationen konnte ich ihr entlocken, aber sie macht dicht, man kommt nicht an sie ran – was mich nicht weiter überrascht. Vielleicht kannst du es später noch mal versuchen. Du bist in solchen Dingen besser als ich.«
»Sie war an einem Sonntag hier?«, fragte Hunter.
»Sie ist jedes Wochenende hier«, klärte Garcia ihn auf. »Sie heißt Melinda Wallis. Pflegeschülerin an der UCLA. Steht kurz vor dem Abschluss. Der Job war Teil ihrer Praxisstunden. Eine Woche nachdem die Krankheit bei Mr Nicholson diagnostiziert wurde, hat sie hier angefangen.«
»Und die übrige Zeit?«
»Mr Nicholson hatte noch eine andere Pflegekraft.« Garcia zog den Reißverschluss seines Overalls auf und fischte ein Notizbuch aus der Brusttasche seines Hemds. »Amy Dawson«, las er vor. »Im Gegensatz zu Melinda ist Amy keine Pflegeschülerin, sondern examinierte Krankenschwester. Sie hat Mr Nicholson unter der Woche betreut. Außerdem hat er jeden Tag Besuch von seinen zwei Töchtern bekommen.«
Hunter hob die Brauen.
»Sie wissen noch nicht Bescheid.«
»Das Opfer hat also allein hier gewohnt?«
»Richtig. Der Mann war achtundzwanzig Jahre lang verheiratet, aber seine Frau ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Garcia steckte das Notizbuch wieder weg. »Die Leiche ist oben.« Er deutete zur Treppe.
Auf dem Weg nach oben achtete Hunter darauf, nicht den Kriminaltechnikern in die Quere zu kommen. Der Treppenabsatz im ersten Stock sah aus wie ein Wartezimmer – zwei Stühle, zwei Ledersessel, ein kleines Bücherregal, ein Zeitschriftenständer und eine Anrichte, auf der mehrere Bilder in geschmackvollen Rahmen standen. Ein schwach beleuchteter Flur führte sie tiefer ins Haus hinein, zu den insgesamt vier Schlafzimmern und zwei Bädern. Garcia ging mit Hunter bis zur letzten Tür rechts. Davor blieb er stehen.
»Ich weiß, dass du schon viel Abartiges gesehen hast, Robert. Da geht es dir wie mir.« Seine latexbehandschuhte Hand lag auf dem Türknauf. »Aber das hier … so was hätte ich mir nicht mal in meinen schlimmsten Träumen vorstellen können.« Er stieß die Tür auf.