Die Skulptur stand wieder an ihrem Platz vor der Pinnwand. Hunter war nach wie vor nicht in der Lage, sich länger als eine Minute von ihrem Anblick loszureißen. Langsam, aber sicher machte sie ihn ganz wirr im Kopf.
Alice saß in einer Ecke über einen Laptop gebeugt. Ihre Aufgabe war es, die Liste der Straftäter, die Derek Nicholson ins Gefängnis gebracht hatte, in verschiedene Kategorien zu ordnen. Nach seinem Gespräch mit Bezirksstaatsanwalt Bradley hatte Hunter sie außerdem gebeten, noch eine zweite Liste anzufertigen, und zwar von allen Prozessen, die Derek Nicholson eigentlich hätte gewinnen müssen, bei denen es aber aufgrund eines Formfehlers, einer Panne bei der Verhaftung oder Beweissicherung nicht zu einer Verurteilung gekommen war. Er musste herausfinden, wer die Opfer waren, ob sie Nicholson eventuell für den verlorenen Prozess verantwortlich machten und ob sie zu irgendeiner Art von Vergeltung fähig wären.
Garcia wiederum hatte den ganzen Tag damit verbracht, Drogerien und Apotheken abzuklappern. Bislang hatte er keine gefunden, in der ein Rezept für alle drei vom Täter verwendeten Medikamente, Propafenon, Felodipin und Carvedilol, eingelöst worden war. Viel nutzte ihnen diese Erkenntnis nicht. Garcia hatte feststellen müssen, dass es ein Leichtes war, die Präparate über illegale Kanäle im Internet zu beschaffen.
Hunter warf einen Blick auf die Uhr. Es wurde allmählich spät. Er stand auf und trat zum gefühlten hundertsten Mal vor die Skulptur. »Carlos, hast du noch deine Digitalkamera hier?«
»M-hm.« Carlos zog die oberste Schreibtischschublade auf und holte eine ultradünne Kamera von der Größe eines Handys heraus. »Wieso?«
»Ich weiß auch nicht. Ich will dieses Ding von verschiedenen Seiten fotografieren.« Hunter deutete mit einem Nicken auf die Skulptur. »Mal sehen, was dabei rauskommt.«
»Das, was der Experte gesagt hat, überzeugt dich nicht so richtig?«
»Kann schon sein, dass er recht hat. Vielleicht ist der Täter wirklich wahnsinnig genug, um sich für Gott zu halten. Schließlich hat er, nicht Gott, die Entscheidung darüber getroffen, Derek Nicholsons Leben ein Ende zu setzen. Mit so viel Macht muss man erst mal umgehen können. Trotzdem bin ich nach wie vor überzeugt, dass wir irgendwas übersehen. Das Problem ist nur, je öfter ich das Ding anschaue, desto weniger erkenne ich. Vielleicht kann die Kamera helfen.«
»Einen Versuch ist es wohl wert«, meinte Garcia und ging zur Pinnwand.
»Okay. Lass uns hier anfangen.« Hunter zeigte auf eine Stelle unmittelbar vor der Skulptur. »Mach drei Bilder – eins im Stehen, also leicht von oben, eins auf gleicher Höhe und eins von unten aus der Hocke. Dann geh einen Schritt nach links und mach dasselbe noch mal. Und immer so weiter, bis wir einmal rundherum sind.«
»Okay.« Garcia machte sich ans Werk. Alle paar Sekunden flammte der Blitz seiner Kamera auf.
Alice an ihrem Schreibtisch fuhr ein wenig zu heftig zusammen.
Hunter merkte es. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Alice gab keine Antwort.
»Alice, ist alles in Ordnung?«, wiederholte Hunter die Frage.
»Ja, alles klar. Ich mag grelles Licht nur nicht so gern.«
Hunter konnte sehen, dass mehr dahintersteckte. Sie wirkte richtiggehend verängstigt, aber er verkniff sich weitere Fragen.
Garcia hatte ungefähr siebzehn Fotos gemacht, als Hunter etwas sah, bei dem es ihm den Atem verschlug. Unwillkürlich erschauerte er.
»Stopp!«, rief er und hob die Hand.
Alice sah von ihrem Laptop auf.
Garcia hielt inne.
»Nicht bewegen«, befahl Hunter. »Mach noch ein Foto aus genau derselben Position. Beweg dich keinen Zentimeter.«
»Was …? Wieso …?«
»Mach’s einfach, Carlos. Vertrau mir.«
»Also gut.« Carlos tat wie geheißen.
Hunters Herz setzte einen Schlag aus. Adrenalin flutete seine Adern. »Unmöglich«, flüsterte er.
Alice stand auf und trat zu ihnen.
»Noch eins, Carlos.«
Erneut richtete Garcia die Kamera auf die Skulptur und betätigte den Auslöser.
»Mein Gott!«
»Robert, was ist denn los?«
Hunter sah seinen Partner an. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was uns der Täter mit seiner Skulptur sagen will.«
23
Andrew Dupeks Lider hoben sich im Zeitlupentempo. Er musste all seine Kraft zusammennehmen, um sie zu öffnen. Die Helligkeit schmerzte in seinen Augen wie das Licht einer Blendgranate, obwohl der Raum nur von Kerzen beleuchtet war. Er konnte nichts erkennen; alles war verschwommen.
Sein Mund war staubtrocken. Er hustete, und der Schmerz, der daraufhin durch seinen Kiefer fuhr, schien sich wie ein Schraubstock um seinen Kopf zu legen und mit solcher Macht zuzudrücken, dass Dupek dachte, er würde jeden Augenblick platzen. Er war so ausgetrocknet, dass seine Lippen spröde geworden waren und seine Drüsen kaum noch Speichel produzierten. Er versuchte, den Speichelfluss in Gang zu bringen, indem er die Zungenspitze gegen den Gaumen presste und auf diese Weise die Speicheldrüsen unter der Zunge zusammendrückte. Genauso hatte er es als Kind immer gemacht. Er hatte den Trick nicht vergessen. Tatsächlich wurde er durch ein paar zähflüssige Tropfen belohnt. Als sie ihm die Kehle hinabglitten, fühlte es sich an, als würde er einen Mundvoll Glasscherben schlucken. Erneut musste er husten, diesmal war es ein bellender, trockener Husten. Der Schmerz in seinem Gesicht war wie eine Explosion und ergriff Besitz von seinem gesamten Schädel. Dupeks Lider flatterten, und er dachte schon, er würde erneut ohnmächtig werden, aber dann meldete sich eine Stimme tief aus seinem Innern, die ihm sagte, dass er, wenn er jetzt die Augen schloss, sie nie wieder aufmachen würde.
Mit all seinem Willen kämpfte er gegen den Schmerz an, und tatsächlich gelang es ihm, bei Bewusstsein zu bleiben.
Gott, er brauchte Wasser. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er sich so schwach und elend gefühlt.
Dupek hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrich, aber irgendwann wurde die Welt um ihn herum schärfer. Er konnte die Umrisse eines kleinen Resopaltischs mit zwei Stühlen erkennen und eine L-förmige Sitzbank in der Ecke. Zwei alte, schlaffe Kissen dienten als Rückenlehne.
»Hhh …?«, war der einzige Laut, den er angesichts der Schmerzen in seinem zerschmetterten Kiefer zustande brachte. Er kannte diesen Ort, er kannte ihn sogar sehr gut. Er befand sich auf seinem eigenen Segelboot.
Er versuchte sich zu bewegen, aber es ging nicht. Weder seine Arme noch seine Beine reagierten. Nichts passierte. Er konnte seinen Körper überhaupt nicht spüren.
Verzweifelte Panik stieg in ihm hoch. Dupek zwang sich zur Ruhe. Er musste sich konzentrieren. Suchte nach einer Empfindung irgendwo in Fingern, Händen, Armen, Zehen, Füßen, Beinen, Brust.
Nichts.
Das Einzige, was er fühlte, waren diese grauenhaften Kopfschmerzen, die ihm Stück für Stück das Gehirn aufzufressen schienen.
Erschöpft ließ Dupek den Kopf auf die Brust sacken. Erst jetzt sah er, dass er nackt war und auf einem Holzstuhl saß. Seine Arme hingen schlaff herab. Sie waren nicht gefesselt. Auch seine Beine schienen nicht festgebunden zu sein, allerdings konnte er die Füße nicht sehen, weil seine Knie abgewinkelt waren, so dass sich seine Waden unterhalb der Sitzfläche befanden. Alles, was er sah, war eine Blutlache, die sich unter dem Stuhl ausgebreitet hatte. Er erschrak. Seine Füße mussten direkt in dem Blut stehen. Er versuchte, seinen Körper ein Stück nach vorn zu bewegen, damit er seine Beine sehen konnte, aber alle Mühe war umsonst. Er konnte sich nicht einen Zentimeter von der Stelle rühren. Kein einziger Körperteil gehorchte ihm.