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Auch Hunter und Garcia schalteten ihre Taschenlampen ein. Die nächsten Minuten verbrachten sie damit, um die abscheuliche Skulptur herumzugehen, sie von allen Seiten anzustrahlen und die Schatten zu studieren, die sie an die Wand warf.

Nichts – keine Tiere, keine Gegenstände, keine Worte.

In dem Moment fiel Hunters Blick auf Dupeks Kopf auf dem Couchtisch. Etwas an der Art und Weise, wie er positioniert worden war, ließ ihn innehalten. Er schien direkt zur Skulptur zu schauen, allerdings von schräg unten.

»Ich will mal was versuchen.« Erneut schaltete Hunter seine Maglite ein und ging in Stellung. Er richtete den Lichtstrahl so aus, dass er in exakt demselben Winkel die Skulptur traf wie Dupeks toter Blick.

»Vielleicht zeigt uns der Täter ja, wie wir sie betrachten müssen.«

»Indem er den Kopf des Opfers entsprechend ausrichtet?«, fragte Dr. Hove. Sie wirkte skeptisch.

»Wer weiß? Diesem Monster traue ich alles zu.«

Schweigend betrachteten sie die seltsamen Schatten, die hinter der Skulptur an der Wand erschienen.

Dr. Hoves Körper kribbelte wie von einem elektrischen Schlag, und sie merkte, wie sie eine Gänsehaut bekam.

»Ich werd’ nicht mehr!«

29

Auf dem Parkplatz hinter dem Gebäude des New World Cinema in Marina Harbor standen über ein Dutzend Polizeifahrzeuge. Der Pulk an Schaulustigen, der sich am Ort des Geschehens eingefunden hatte, war inzwischen auf eine beträchtliche Größe angewachsen, und die Anzahl der Übertragungswagen und Reporter hatte sich innerhalb der letzten Stunde verdoppelt.

»Entschuldigung«, wandte sich eine junge Frau Mitte zwanzig an den Mechaniker, der im hinteren Teil der Menge stand und von dort aus in aller Ruhe das Gewimmel aus Polizei und Reportern beobachtete. »Haben Sie zufällig eine Ahnung, was da passiert ist?« Ihrem Akzent nach kam sie aus dem Mittleren Westen. Missouri vielleicht oder Wisconsin. »Wurde ein Boot gestohlen?«

Der Mechaniker lachte über die Naivität der Frau und drehte sich zu ihr um.

»Ich glaube kaum, dass ein geklautes Boot so viele Cops und Ü-Wagen auf den Plan ruft. Nicht mal in Los Angeles.«

Die Augen der Frau weiteten sich ein wenig. »Wurde jemand ermordet?« Ihre Stimme war plötzlich schrill vor Erregung.

Der Mechaniker hielt die Spannung einen Augenblick lang, dann nickte er. »Ja. Auf dem letzten Boot ganz am Ende vom Dock.«

Die Frau stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf das Boot zu erhaschen, sah jedoch nichts als die Hinterköpfe der anderen Schaulustigen. »Wurde die Leiche schon rausgebracht?«, fragte sie, während sie von einem Fuß auf den anderen trat und sich vergeblich um bessere Sicht bemühte.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Stehen Sie schon lange hier?«

Der Mechaniker nickte. »Das kann man wohl so sagen.«

»Mensch, was da wohl passiert sein mag …«

Der Mechaniker hatte einmal gelesen, dass der Tod auf die meisten Menschen eine ungeheure Faszination ausübte. Je brutaler und abscheulicher, desto genauer wollten alle Bescheid wissen, desto mehr wollten sie davon sehen. Einige Wissenschaftler führten dieses Phänomen auf einen primitiven Gewaltinstinkt zurück, der in manchen Menschen schlummerte und in anderen überaus aktiv war. Manche Psychologen vertraten auch die Ansicht, dass es mit dem tief im Innern verwurzelten Bedürfnis des Menschen zusammenhing, den Tod und das, was danach kam, zu begreifen.

»Ich hab gehört, er wurde enthauptet«, sagte der Mechaniker, um die morbide Neugier der Frau auf die Probe zu stellen.

»Nicht im Ernst.« Sie wurde immer unruhiger, stellte sich abermals auf die Zehenspitzen und reckte den Hals wie eine Meerkatze, während sie versuchte, über die Menschenmenge hinwegzuspähen.

»Hab ich gehört«, wiederholte der Mechaniker. »Und dass das ganze Boot voller Blut war. Muss wirklich übel sein.«

»Ach du liebe Güte«, sagte die Frau, und ihre Hand flog an ihren Mund.

»Tja, willkommen in L. A.«

Die Frau schien sich kurz zu ekeln, bis ihr Blick auf einen Polizisten fiel, der unmittelbar in der Nähe stand. Vor Freude sprang sie auf und ab wie ein Kind, dem man eröffnet hatte, es dürfe zum ersten Mal in seinem Leben nach Disneyworld. »Oh, da ist ein Polizist. Den fragen wir.«

»Nein, lassen Sie mal. Für mich war’s das hier. Ich muss jetzt los.«

»Ich kann nicht fassen, dass Sie nicht neugierig sind.«

»Ich glaube kaum, dass ein Polizist mir irgendwas sagen kann, was ich nicht schon weiß.«

Die Frau runzelte angesichts dieser seltsamen Bemerkung die Stirn, war aber viel zu aufgeregt, um weiter darüber nachzudenken. »Na ja, ich gehe jedenfalls hin und frage ihn. Ich will Bescheid wissen.«

Der Mechaniker nickte, bevor er in der Menge untertauchte.

Die Frau hingegen drängelte sich nach vorn und nahm entschlossen Kurs auf den Polizisten.

Weder sie noch der Polizist noch sonst jemand in der Menge sah die winzigen Blutspritzer am Hosensaum des Mechanikers.

30

Es war kurz vor ein Uhr nachts, als Hunter endlich in seine Wohnung zurückkam. Er musste dringend duschen. In der Kajüte war so viel Blut gewesen, dass er trotz Schutzkleidung das Gefühl hatte, etwas davon würde an seiner Haut und sogar an seiner Seele kleben.

Er lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die weißgekachelte Wand der Duschkabine und ließ sich vom starken, heißen Wasserstrahl die verspannten Nacken-und Schultermuskeln massieren. Langsam fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Dabei streiften seine Fingerspitzen die hässliche Narbe in seinem Nacken, und er betastete kurz die raue, wulstige Haut. Sie war eine Mahnung, ja nicht zu vergessen, wie zielstrebig, wie gefährlich ein böser Verstand sein konnte. Nicht dass es dieser Mahnung bedurft hätte. Obwohl sie bereits mehrere Jahre zurücklag, war seine Begegnung mit dem Ungeheuer, das die Presse auf den Namen »Kruzifix-Killer« getauft hatte, noch so frisch in seinem Gedächtnis, als wäre sie erst wenige Minuten her. Die schmerzhafte Narbe in seinem Nacken würde ihn auf ewig daran erinnern, wie nahe er und Garcia dem Tod gekommen waren.

Schlimm war nur die Erkenntnis, dass es letztlich vollkommen egal war, was er tat oder wie schnell und hart die Polizei arbeitete. Sie konnten niemals Schritt halten. Kaum hatten sie einen wahnsinnigen Mörder hinter Gitter gebracht, tauchten zwei, drei, vier neue auf. Das Verhältnis fiel immer zu ihren Ungunsten aus. Es war eine traurige Ironie, dass die Stadt der Engel mehr Böses hervorzubringen schien als jede andere Stadt in den USA.

Hunter wusste nicht, wie lange er unter der Dusche stand, doch als er endlich die bösen Erinnerungen verdrängt und das Wasser abgedreht hatte, war seine braungebrannte Haut gerötet, und seine Fingerspitzen waren runzlig wie Backpflaumen.

Er trocknete sich ab, schlang sich ein frisches weißes Handtuch um die Hüften und ging zurück ins Wohnzimmer. Sein Barschrank war klein, doch die beeindruckende Sammlung von Single Malt darin verriet den Whiskykenner. Hunter brauchte jetzt etwas Kräftiges, aber zugleich auch Sanftes und Beruhigendes. Er suchte nicht lange. Die Wahl war getroffen, sobald sein Blick auf die Flasche fünfzehn Jahre alten Balvenie Single Barrel fiel.

Hunter goss sich einen großzügigen Schluck ein, gab ein wenig Wasser dazu und ließ sich auf das schwarze Kunstledersofa fallen. Er gab sich alle Mühe, nicht an den Fall zu denken, aber die Bilder der letzten Tage hatten sich in seinem Kopf eingenistet und kreisten nun unablässig darin herum. Garcia und er waren gerade ansatzweise hinter den Sinn der ersten Skulptur gekommen, aber noch ehe sie Gelegenheit hatten, ihre wahre Bedeutung zu entschlüsseln, konfrontierte sie der Täter schon mit einem zweiten Opfer, einer zweiten Skulptur und einem zweiten Schattenbild, das noch rätselhafter war als das erste. Er hatte keine Ahnung, wo er ansetzen sollte.