Hunter trank einen großen Schluck von seinem Whisky und konzentrierte sich ganz auf das Geschmackserlebnis. Der höhere Alkoholgehalt verlieh dem Single Malt etwas mehr Intensität, ohne das vollmundige, fruchtige Aroma zu beeinträchtigen.
Wenige Minuten und einen Schluck später setzte allmählich die Entspannung ein, als plötzlich Hunters Handy zu klingeln anfing.
Aus Reflex warf er einen Blick auf die Uhr. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.« Er ließ sein Handy aufschnappen und hob es ans Ohr. »Detective Hunter.«
»Robert, hier ist Alice.«
Hunter zog die Brauen zusammen. »Alice …? Was gibt’s?«
»Na ja, ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht was trinken gehen wollen.«
»Was trinken …? Es ist fast zwei Uhr morgens.«
»Das weiß ich.«
»Dann wissen Sie ja wahrscheinlich auch, dass wir in Los Angeles sind, wo so ziemlich jede Bar um zwei Uhr schließt.«
»Ja, das weiß ich auch.«
»Und macht das Ihr Vorhaben, was trinken zu gehen, nicht mehr oder weniger zunichte?«
Eine kurze Pause.
»Vielleicht könnten Sie mich ja zu sich nach Hause einladen, und wir könnten bei Ihnen was trinken?«
Hunter runzelte die Stirn. »Sie wollen hierherkommen und bei mir was trinken?«
»Na ja, ich bin sowieso gerade in der Gegend. Ich könnte in … zwei Minuten da sein. Oder auch schneller.«
Instinktiv ging Hunters Blick zum Wohnzimmerfenster. Er hatte noch keine Zeit gehabt, es zu überprüfen, war sich jedoch relativ sicher, dass Alice Beaumont nicht in diesem Teil der Stadt wohnte. Zwei Minuten von seiner Wohnung entfernt befand man sich ziemlich genau in der Mitte von Nirgendwo. Oder auf Gang-Territorium.
Er zögerte.
»Könnte sein, dass ich was rausgefunden habe«, sagte Alice.
»Was denn?«
»Ich glaube, ich weiß jetzt, was die Schattenbilder bedeuten.«
31
Hunter schlüpfte in alte Jeans und ein weißes T-Shirt. Der Baumwollstoff spannte sich über seinen breiten Schultern und schmiegte sich wie eine zweite Haut um seinen Körper. In seinem Wohnzimmer lagen jede Menge Unterlagen, Zeitschriften und Bücher herum. Er überlegte, ob er noch rasch aufräumen sollte, doch bevor er damit anfangen konnte, klopfte es bereits. Er griff nach seiner Heckler & Koch USP .45 Tactical, prüfte den Sicherungsmechanismus und steckte sie sich hinten in den Hosenbund. Erst dann ging er zur Tür.
Erneut drei Klopfzeichen.
»Robert? Ich bin’s, Alice«, kam eine Stimme von draußen.
Hunter entriegelte Schloss und Kette und zog die Tür zur Hälfte auf.
Auf der Schwelle stand Alice Beaumont mit ihrem schwarzen Aktenkoffer. Sie hatte den Pferdeschwanz, den sie früher am Tag getragen hatte, gelöst, und ihr blondes Haar glänzte selbst im trüben Licht des Hausflurs. Jetzt sah sie kein bisschen mehr wie eine Anwältin aus. Sie hatte ihr konservatives Kostüm gegen hautenge Jeans, eine schwarze, tief ausgeschnittene Baumwollbluse und schwarze kniehohe Stiefel mit klobigen Absätzen eingetauscht. Ihr Make-up war nach wie vor dezent, allerdings ein klein wenig verruchter als zuvor. Ihr Parfüm roch blumig und aufreizend.
Hunter musterte sie schweigend.
»Darf ich reinkommen, oder sollen wir uns hier im Treppenhaus unterhalten?«
»Klar. Sorry.« Hunter machte einen Schritt nach rechts und ließ sie eintreten. Die Wohnung lag im Halbdunkel. Nur die Lampe auf Hunters Esstisch brannte.
Alice sah sich in dem kleinen Zimmer um. Lange brauchte sie nicht dafür.
»Nett hier … gemütlich«, sagte sie. Es lag kein Sarkasmus in ihrer Stimme. »Aber aufräumen könnte man mal.«
Hunter schloss die Tür hinter sich und ging an ihr vorbei. »Sollten Sie um diese Zeit nicht im Bett liegen und schlafen?«
Alice lachte leise. »Nach allem, was heute los war? Die Sache mit den Schattenfiguren? Dann Sie beide, wie Sie wie zwei Verrückte aus dem Büro stürzen, weil derselbe Täter vielleicht noch mal zugeschlagen hat?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie soll ich denn da abschalten? Keine Chance.«
Hunter konnte sie verstehen. Er löste seinen Blick von ihrem Gesicht.
Alice wartete, aber Hunter sagte nichts weiter.
»Captain Blake hatte recht, oder? Er hat zum zweiten Mal zugeschlagen.«
Hunter nickte.
»Eine neue Skulptur?«
Hunter nickte.
Alice stieß durch zusammengebissene Zähne den Atem aus. »Also, ich könnte wirklich einen Drink vertragen.« Sie stellte ihren Aktenkoffer auf dem Boden ab.
»Ich fürchte, meine Auswahl ist begrenzt. Scotch oder Bier. Was anderes gibt es nicht.«
»Bier ist in Ordnung.«
Hunter nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, drehte den Kronkorken ab und reichte sie ihr.
Alice starrte erst die Flasche und dann Hunter einen Moment lang an. »Könnte ich ein Glas dazu haben?«
Hunter deutete auf den Hochschrank über der Spüle. »Bedienen Sie sich.«
Alice öffnete den Schrank und fand darin zwei Becher, ein hohes Coca-Cola-Glas, vier Schnapsgläser und ein halbes Dutzend Whisky-Tumbler. Sie entschied sich für das hohe Glas.
Dann kehrten sie ins Wohnzimmer zurück, und Hunter goss sich einen zweiten Scotch ein.
»Sie haben gesagt, Sie wüssten vielleicht, was die Schattenbilder zu bedeuten haben. Ich höre.«
Alice trank einen Schluck von ihrem Bier. »Okay, nachdem Sie und Carlos weg waren, konnte ich nicht aufhören, über die Skulptur und diese Schattenfiguren nachzugrübeln. Was Sie davor gesagt hatten, klang für mich plausibel – dass man die Bedeutung der Bilder nur dann korrekt interpretieren kann, wenn man weiß, um was für einen Vogel und was für einen Hund es sich handelt.«
Hunter nickte und bot ihr mit einer Geste einen Platz auf dem Sofa an. Sie setzte sich und griff nach ihrem Koffer.
Hunter zog einen der Kiefernstühle vom Esstisch heran, drehte ihn mit der Lehne nach vorn und setzte sich rittlings darauf.
»Also habe ich recherchiert, während Sie beide unterwegs waren«, fuhr Alice fort. »Ich habe im Netz nach hundeähnlichen Tieren und mittelgroßen, ›dicken‹ Vögeln gesucht. Wie Sie gesagt haben – Krähe, Rabe, Dohle und so weiter. Dann habe ich die Bilder …«, sie hielt inne und berichtigte sich, »oder besser: ihre Silhouetten mit unseren Schattenbildern verglichen.«
»Und was ist dabei rausgekommen?«
»Eine ganze Menge.« Sie ließ den Aktenkoffer aufschnappen und zog mehrere Blätter heraus. »Zunächst mal gibt es für jedes Tier, das ich mir in dem Zusammenhang angeschaut habe, eine ganze Palette möglicher Interpretationen. Je länger ich recherchiert habe, desto unübersichtlicher wurde es. Und als ich die Suche dann noch auf verschiedene Kulturkreise und Zeitepochen ausgeweitet habe, bin ich von Bedeutungen regelrecht überschwemmt worden.«
Hunter hob fragend eine Braue.
»Zum Beispiel«, Alice legte ein Blatt zwischen sie beide auf den Couchtisch, »gibt es mehrere Stämme amerikanischer Ureinwohner, bei denen der Kojote beziehungsweise der Wolf für eine Gottheit steht oder für einen bösen Geist oder sogar für das Böse an sich. Es ist kein Zufall, dass sowohl in Cartoons als auch in der Kunst die meisten Dämonendarstellungen – sei es nun Satan, Beelzebub, Azazel oder was Ihnen sonst noch so für satanische Kreaturen einfallen – Ähnlichkeiten mit einem Hund haben.«
Hunter griff nach dem Blatt und überflog, was darauf geschrieben stand.
»In der ägyptischen Mythologie ist Anubis ein schakalköpfiger Gott, der die Mumifizierung der Toten überwacht und in Verbindung mit dem Jenseits steht.«
Hunter nickte. »Laut den Pyramidentexten des alten Königreichs war Anubis der wichtigste Totengott. Später wurde er von Osiris abgelöst.«