Alice sah ihn verwundert an.
Hunter tat die Sache mit einem Schulterzucken ab. »Ich lese viel.«
Alice besann sich wieder auf ihren Vortrag. »Überall auf der Welt gibt es Kulturen, in denen der Rabe als Geschöpf der Dunkelheit gilt, ähnlich wie die Fledermaus. Er ist ein Symbol für Geheimnis, Verwirrung, Zorn, Hass, Gewalt und alles, was man gemeinhin mit der Dunkelheit assoziiert.« Sie legte ein zweites Blatt auf den Tisch.
Hunter griff danach.
»Besonders weit verbreitet ist die Symbolik des Raben oder der Krähe als …«, sie machte eine Pause wie eine Lehrerin, die die Neugier ihrer Schüler steigern will, »… Todesbote. In einigen Kulturkreisen schickt man dem Feind eine Krähe oder einen Raben zum Zeichen dafür, dass er dem Tod geweiht ist. Manchmal einen ganzen Vogel, manchmal nur den Kopf.« Sie holte tief Luft. »In Süd-und Mittelamerika existiert dieser Brauch heute noch.« Sie wies Hunter auf die entsprechenden Textstellen hin.
Hunter nahm alles mit einem Nicken zur Kenntnis und trank noch einen Schluck von seinem Whisky. Schweigend las er zu Ende.
»Bevor ich weitererzähle, muss ich Sie noch was fragen«, sagte Alice.
»Nur zu.«
»Wieso um alles in der Welt hat der Täter überhaupt diese Skulpturen und Schattenbilder gemacht? Wenn er uns was zu sagen hat, warum schreibt er dann nicht einfach eine Botschaft an die Wand, so wie für diese arme Pflegeschülerin? Warum macht er sich so viel Mühe und geht so ein hohes Risiko ein, nur um uns irgendwelche mysteriösen Hinweise zu hinterlassen?«
Hunter rollte langsam den Kopf von links nach rechts. Selbst nach der Dusche und zwei Drinks waren seine Trapezmuskeln noch steif.
»Wenn ein Verbrecher absichtlich Hinweise hinterlässt, dann tut er das normalerweise aus einem von zwei Gründen«, sagte er. »Erstens: um die Polizei herauszufordern, also als eine Provokation. Er hält sich für besonders intelligent. Er ist überzeugt, man kann ihn nicht fassen. Für ihn ist es wie ein Spiel, und die Hinweise erhöhen sein Risiko, machen das Spiel spannender.«
»Er hält sich für Gott?«, fragte sie in Anlehnung dessen, was Miguel ihnen gesagt hatte.
»Manchmal auch das, ja.«
Sie ließ sich Hunters Worte durch den Kopf gehen. »Und der zweite Grund?«
»Um Verwirrung zu stiften. Um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken, wenn man so will. Wenn das der Fall ist, haben die Hinweise überhaupt keine tiefere Bedeutung, aber natürlich wissen wir das erst mal nicht. Der Täter kann sich sicher sein, dass die Polizei jedem vermeintlich bedeutsamen Hinweis, den sie am Tatort vorfindet, nachgeht. Das ist Vorschrift. Das heißt, wir verschwenden wertvolle Zeit, indem wir versuchen, Sinn in etwas völlig Sinnloses hineinzulesen.«
»Und je kryptischer der Hinweis, desto mehr Zeit geht verloren.«
»Genau.«
Alice deutete Hunters Gesichtsausdruck richtig. »Aber Sie glauben nicht, dass in unserem Fall einer dieser beiden Gründe zutrifft?«
»Der zweite Grund definitiv nicht. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass unser Täter verblendet genug ist, sich selbst für unbesiegbar zu halten. Zu glauben, dass man ihn nicht fassen kann. Dass er Gott ist.«
»Aber so richtig sind Sie nicht davon überzeugt.«
»Nein«, bekannte Hunter ohne Zögern.
»Also, wie sieht Ihre Vermutung aus?«
Hunter blickte in sein Glas, dann wieder hoch zu Alice. »Ich glaube, unser Täter hinterlässt uns Hinweise, weil es ihm wichtig ist. Die Skulptur und die Schattenbilder spielen bei seinen Taten eine ganz konkrete und zentrale Rolle. Wir wissen noch nicht, welche Rolle das ist, aber ich bin mir absolut sicher. Sie müssen eine direkte Verbindung zum Täter, zum Opfer, zur Tat oder sogar zu allen dreien haben. Er hat die Skulptur und die Schattenbilder nicht aus einer Laune heraus geschaffen, nur um die Polizei zu verhöhnen oder abzulenken. Er hat sie geschaffen, weil ohne sie die Tat in seinen Augen nicht vollständig wäre.«
Alice rutschte auf ihrem Platz hin und her. Etwas an Hunters Erklärung löste tiefes Unbehagen in ihr aus.
»Also, was haben Sie sonst noch rausgefunden?«
Alice legte ein drittes und letztes Blatt Papier auf den Tisch. »Etwas sehr Interessantes. Ich glaube, das könnte die Lösung sein, nach der wir gesucht haben.«
Hunter beugte sich vor und überflog das Blatt.
»Mir ist wieder eingefallen, dass Derek sich für Mythologie interessiert hat. Er hat oft Bücher zu dem Thema gelesen, und er hat nie eine Gelegenheit ausgelassen, irgendwelche Analogien anzubringen oder aus einem mythologischen Text zu zitieren, ob in einer ganz normalen Unterhaltung oder während eines Plädoyers. Das hat mich auf eine Idee gebracht.«
»Nämlich?«
»Mir war bereits aufgefallen, dass der Kojote und der Rabe in ihrer mythologischen Funktion viele Eigenschaften gemeinsam haben«, führte Alice aus. »Schnelligkeit, Listenreichtum, Geschick … Deswegen habe ich aufs Geratewohl beide Figuren miteinander kombiniert. Und das hier war das Ergebnis.« Sie zeigte auf das Blatt in Hunters Händen.
Hunter las.
»Die Gestalt des Kojoten, gepaart mit der des Raben, symbolisiert in erster Linie einen Schwindler oder Betrüger … eine Person, der man nicht trauen kann, weil sie andere hintergeht.«
32
Das Aufheulen einer Polizeisirene in der Ferne zerriss die unheimliche Stille, die sich in Hunters Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Alice versuchte, in Hunters Gesicht zu lesen, aber es gelang ihr nicht.
»Der Täter lässt uns wissen, was er von Derek Nicholson hält«, sagte Alice. »Er sagt uns, dass Derek in seinen Augen ein Lügner, Betrüger und Schwindler ist.« Sie hob abwehrend die Hand, noch ehe Hunter etwas darauf erwidern konnte. »Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Derek war Anwalt, und viele Menschen sind der Meinung, dass Anwälte gewissermaßen von Berufs wegen nichts anderes tun als lügen und betrügen.«
Hunter schwieg.
»Aber Derek war kein Rechtsverdreher oder einer dieser Winkeladvokaten, die es nur auf Unfallmandate abgesehen haben, weil die viel Geld bringen. Er war Staatsanwalt. Er hatte einen einzigen Mandanten, und zwar den Staat Kalifornien. Seine Aufgabe war es, Angeklagten, die vom LAPD oder der California State Police gefasst worden waren, den Prozess zu machen. Sein Gehalt bemaß sich nicht danach, ob er einen Prozess gewonnen oder verloren hat oder wie viel Geld er aus der Gegenseite herauspressen konnte.«
Noch immer sagte Hunter nichts.
Alice wurde lebhafter. »Der springende Punkt ist doch der: Ich glaube kaum, dass der Täter sich selbst als Betrüger sieht. Er meint definitiv Derek, aber nicht in dessen Funktion als Staatsanwalt. Da muss es noch einen anderen Grund geben. Einen, auf den wir noch nicht gestoßen sind.«
»Sind Sie mit der Liste der Straftäter, die Derek Nicholson im Laufe seiner Karriere ins Gefängnis gebracht hat, schon weitergekommen?«, erkundigte sich Hunter.
»Bis jetzt noch nicht«, sagte Alice und stand auf. »Ich habe niemanden gefunden, der zu einer Tat solchen Ausmaßes fähig wäre, weder unter den entlassenen Straftätern noch unter den Angehörigen oder Freunden. Aber falls es ihn gibt, kriege ich ihn. Haben Sie was dagegen, wenn ich mir noch ein Bier hole?« Sie zeigte in Richtung Küche.
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
Alice öffnete Hunters Kühlschrank und runzelte die Stirn, als sie die gähnende Leere sah, die darin herrschte. »Wow, wovon ernähren Sie sich eigentlich? Proteinshakes, Scotch und …« Sie ließ den Blick einmal rasch durch die Küche wandern. »Luft?«
»So essen Sieger«, gab Hunter zurück. »Wie sieht es mit denen aus, die Nicholson nicht ins Gefängnis gebracht hat? Die wegen eines Formfehlers oder aus anderen Gründen einer Haftstrafe entgangen sind? Was ist mit ihren Opfern? Denen, die vielleicht das Gefühl hatten, dass der Staat in seiner Pflicht versagt hat. Wäre es denkbar, dass sich einer von ihnen gerächt hat? Ist bekannt, ob Derek Nicholson jemals von einem dieser Leute für einen verlorenen Prozess verantwortlich gemacht wurde?«