»Was kann ich für Sie tun, Ms Nicholson?«, fragte er und deutete auf einen der fünf Stühle, die um den kleinen rechteckigen Tisch gruppiert waren.
Olivia setzte sich nicht. Stattdessen öffnete sie den Reißverschluss ihrer Handtasche, zog eine Ausgabe der Morgenzeitung hervor und legte sie auf den Tisch. »Hat er mit meinem Vater dasselbe gemacht?« Ihre unteren Augenränder sahen so aus, als würden jeden Augenblick die Tränen überquellen. »Hat der, der ihn getötet hat, aus seinen Gliedmaßen auch so eine widerwärtige Skulptur gemacht?«
Hunter ließ die Arme locker herunterhängen. Er sprach betont ruhig. »In dem Artikel geht es nicht um den Mord an Ihrem Vater.«
»Aber um einen ganz ähnlichen Mord«, gab Olivia zurück, und ihre Stimme war scharf wie ein Messer. »Einen Mord, in dem Sie, diesem Artikel zufolge, ermitteln. Stimmt das?«
Hunter hielt ihrem Blick stand. »Ja.«
»Bezirksstaatsanwalt Bradley hat mir versichert, dass alle ihr Bestes tun, um das Monster dingfest zu machen, das ins Haus meines Vaters eingedrungen ist. Er hat mir versichert, dass die Detectives, die den Fall bearbeiten, die besten in der Abteilung sind und dass sie sich ausschließlich mit dem Mord an meinem Vater befassen. Die einzig logische Erklärung ist also, dass es zwischen den zwei Morden eine Verbindung gibt.« Sie forschte in Hunters Miene nach einer Antwort, fand aber keine. »Bitte beleidigen Sie nicht meine Intelligenz, indem Sie behaupten, dass die Fragen über Bildhauerei, die Sie mir und meiner Schwester vorgestern gestellt haben, mit einem Metallstück von einer Skulptur zusammenhängen, das Sie angeblich im Haus meines Vaters gefunden haben.«
Hunters Miene gab nichts preis. Trotzdem wusste er, dass er aufgeflogen war. »Bitte, Ms Nicholson, setzen Sie sich doch.« Diesmal zog er ihr eigenhändig einen Stuhl zurecht. Das war Phase eins im Umgang mit emotional labilen Personen: einfache, leicht zu befolgende Handlungsanweisungen geben, um den Betroffenen die Angst zu nehmen. Wenn möglich, die Person dazu bringen, sich hinzusetzen, denn im Sitzen sind sowohl Körper als auch Geist entspannter als im Stehen.
»Bitte«, beharrte Hunter.
Endlich gab Olivia nach.
Hunter ging zum Wasserspender in der Ecke, füllte zwei Plastikbecher mit eisgekühltem Wasser und trug sie zum Tisch zurück, bevor er Olivia gegenüber Platz nahm.
Phase zwei sieht vor, dem Betreffenden etwas zu trinken anzubieten. Das kurbelt den Stoffwechsel an, und der Organismus bekommt etwas zu tun, das ihn von einer drohenden Panikattacke ablenkt. Darüber hinaus ist ein kaltes Getränk an einem heißen Tag angenehm erfrischend.
Hunter nahm als Erster einen Schluck von seinem Wasser. Kurz darauf folgte Olivia seinem Beispiel.
»Falls Sie den Eindruck gewonnen haben, ich hätte Sie und Ihre Schwester angelogen, bitte ich um Entschuldigung«, begann Hunter, stets auf Blickkontakt bedacht. »Das war bestimmt nicht meine Absicht.«
»Aber das mit dem Bruchstück von einer Skulptur im Schlafzimmer meines Vaters war doch ganz eindeutig eine Lüge.« Olivia klang tief verletzt.
Hunter nickte. »Die Einzelheiten einer Tat zu kennen oder zu wissen, zu welchen Grausamkeiten ein gestörter Mörder fähig ist, hat noch niemandem dabei geholfen, mit seiner Trauer fertig zu werden. Oft tritt das genaue Gegenteil ein, Ms Nicholson, das können Sie mir glauben. Ich habe es oft genug erlebt. Die Fragen, die ich Ihnen und Ihrer Schwester an dem Tag stellen musste, waren schon schwer genug für Sie. Es bestand kein Grund, es noch schlimmer zu machen. Ihre Antworten wären nicht anders ausgefallen, wenn ich Ihnen die Wahrheit über die Skulptur gesagt hätte.«
Olivia trank erneut von ihrem Wasser, stellte den Becher dann auf den Tisch und hielt den Blick darauf gerichtet. Offenbar wollte sie genau nachdenken, bevor sie weitersprach. »Was war es?«, fragte sie schließlich.
Hunter sah sie an, als verstehe er nicht, was sie meinte.
»Was war das für eine Skulptur? Was hat er aus den …« Sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen. In ihren Augen glitzerten Tränen.
»Es ließ sich nicht näher identifizieren«, antwortete Hunter. »Irgendein formloses Gebilde.«
»Hatte es irgendeine Bedeutung?«
Das Letzte, was Hunter wollte, war Olivias Leiden noch weiter zu vergrößern, aber er sah keinen anderen Ausweg. Er musste schon wieder lügen. Er durfte die Ermittlungen nicht gefährden, und es gab keine Beweise, dass das, was Alice herausgefunden hatte, tatsächlich der wahren Bedeutung der Schattenbilder entsprach. »Falls ja, haben wir keine Ahnung, welche.«
38
Olivia sah Hunter forschend ins Gesicht. Fünf lange Sekunden blickten ihre großen grünen Augen in seine, bevor sie zu dem Schluss kam, dass er die Wahrheit sagte. Sie griff nach ihrem Becher, führte ihn aber nicht zum Mund. Es war lediglich eine nervöse Geste, damit ihre Hände nicht so zitterten. Viel half es nicht.
»Ich konnte die letzten Tage nicht schlafen«, gestand sie. Sie wandte den Blick ab und fixierte eine Stelle an der Wand. »Wach zu liegen ist immer noch besser, als die Augen zu schließen und die Träume zu ertragen.«
Hunter sagte nichts. Er bezweifelte, dass es Olivia ein Trost wäre, wenn sie wüsste, dass es ihm schon fast sein ganzes Leben so ging.
»Wir wussten, dass Dad nicht mehr lange zu leben hatte, und so schwer das auch für uns war, Allison und ich waren darauf vorbereitet.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Unterlippe zitterte. »Dachte ich zumindest. Offenbar habe ich mich getäuscht. Und dann noch auf diese Weise zu erfahren, was wirklich passiert ist …« Sie schob Hunter die Zeitung hin und sagte nichts mehr.
»Noch einmal, es tut mir leid«, beteuerte Hunter, ohne die Zeitung anzusehen. »Ich musste eine Entscheidung treffen. Und das habe ich getan, auf der Grundlage meiner Erfahrungen im Umgang mit den Hinterbliebenen von Mordopfern.« Er sagte dies in sanftem Tonfall und ohne jede Herablassung.
Darauf schien Olivia anzusprechen. »Was gestern passiert ist …« Ihr Blick glitt zur Zeitung, dann zurück zu Hunter. »Gibt es da wirklich einen Zusammenhang?«
Durch ihre Frage zwang sie Hunter zu einer Antwort, die er ihr sowieso nicht ewig hätte vorenthalten können.
»Nach unserem bisherigen Kenntnisstand scheint es so, dass beide Verbrechen von demselben Täter verübt wurden, ja«, antwortete er, um dann rasch hinterherzuschieben: »Sie haben den Artikel ja offensichtlich gelesen.« Er deutete mit einem Nicken auf die Zeitung.
»Ja.«
»Sagt Ihnen der Name Andrew Dupek irgendwas?«
»Nein«, antwortete sie mit einem leichten Kopfschütteln.
»Sie erkennen ihn auf dem Zeitungsfoto nicht wieder?«
»Als ich den Artikel heute Morgen gelesen habe, habe ich mir dieselbe Frage gestellt, Detective.« Abermals wandte Olivia den Blick ab. »Weder sein Name noch sein Gesicht kommen mir bekannt vor. Falls mein Vater ihn gekannt hat, hat er ihn mir gegenüber nie erwähnt. Und ich kann mich definitiv nicht daran erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.«
Hunter nahm dies mit einer leichten Neigung des Kopfes zur Kenntnis.
Olivia trank ihr Wasser aus, dann fixierte sie Hunter mit einem beschwörenden Blick. »Sie haben noch nicht viel in der Hand, oder, Detective?« Sie zögerte ganz kurz. »Und bitte belügen Sie mich nicht schon wieder.« Ihre Stimme kippte.
Hunter zögerte, weil er überlegte, was er ihr sagen sollte. Olivias bange Erwartung schwirrte wie eine elektrische Ladung in der Luft. »Im Moment haben wir mehrere Hinweise, die wir noch auswerten müssen. Aber wir machen Fortschritte«, versicherte er ihr. »Viel mehr als das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, es tut mir leid. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«