»Und deshalb nahmen Sie den Toten die Skalps?«
Jacob, der dies fragte, war ebenso bleich im Gesicht wie Irene.
»Wer in Kalifornien nach Gold suchen will, braucht eine Menge Geld für die Ausrüstung«, erklärte der Mann mit der Narbe. »Die Skalps und die indianischen Arbeiten lassen sich gut verkaufen. Die Rothäute haben uns eine Existenz genommen. Sollen sie uns wenigstens helfen, eine neue aufzubauen.«
Als hätten sie sich über das Wetter unterhalten, schaufelte John Bradden eine neue Portion Bohnen und Speck in seinen Mund und spülte sie mit einem großen Schluck Kaffee hinunter.
Unter den Menschen aus Greenbush machte sich zustimmendes Gemurmel breit. Jacob hatte den Eindruck, daß sie sich selbst damit Mut zusprachen.
Oder konnte es tatsächlich sein, daß alle die schreckliche Tat billigten, die sie an den Nez Perce verübt hatten?
Hatten das sogenannte Weihnachtsfieber und das Eingeschlossensein in ihrem Ort die Überlebenden aus Greenbush verrückt werden lassen?
»Sie sind Mörder«, krächzte Jacob, der sich wie in einem Alptraum fühlte. Fassungslos sah er in die Gesichter von Männern und Frauen. »Sie alle sind Mörder!«
»Mörder?« John Bradden lachte rauh, und es klang unecht. »Wir haben keine Weißen umgebracht, nur stinkende Rothäute!«
»Es waren Menschen!« beharrte Jacob.
»Schluß damit!« herrschte der Treck-Captain Jacob an. Der Mann mit der Narbe sprang auf, ohne darauf zu achten, daß er seinen Kaffee verschüttete. Die Beherrschung hatte ihn verlassen. Sein ganzes Gesicht zuckte, und das rote Mal führte einen geradezu grotesken Tanz auf.
»Wir müssen uns solches Gerede nicht bieten lassen, Dutch. Du und deine Freundin, ihr seid Gäste bei uns. Wenn euch etwas nicht paßt, haltet den Mund oder verschwindet!«
Jamie begann zu weinen. Er schien zu spüren, daß etwas nicht in Ordnung war. Irene streichelte ihn und redete ihm beruhigend zu. Aber sie selbst war aufgeregt und ängstlich, auch wenn sie es zu verbergen versuchte. Jacob kannte sie mittlerweile gut genug, um das zu bemerken.
»Sie haben uns eingeladen, mit ihnen zu kommen, Bradden«, stellte er fest. »Und Sie, haben uns die Nez Perce auf den Hals gehetzt. Ich komme immer mehr zu dem Schluß, daß ich der falschen Seite beigestanden habe. Leider!«
Bradden bleckte die gelblichen Zähne und zischte: »Ich wußte doch gleich, daß du ein verdammter Indianerfreund bist, Dutch. Und jetzt hole ich das nach, was ich gestern versäumt habe. Ich schicke dich zu deinen roten Freunden in die Ewigen Jagdgründe!«
Er zog den Revolver aus dem Hosenbund, einen klobigen, langläufigen Starr.
Aber Jacob war genauso schnell und richtete seinen Karabiner auf den Treck-Captain.
Das doppelte Klicken der Hähne verkündete die beiderseitige Schußbereitschaft.
Alles wartete gespannt auf die Detonation. Oder auf mehrere, falls beide Männer zum Schuß kamen.
»Was tut ihr?« rief eine schwache Stimme. »Seid ihr verrückt, daß ihr euch gegenseitig umbringt?«
Carol Owen streckte den Kopf aus ihrem Wagen. Der fiebrige Glanz war aus ihren Augen verschwunden. Ihr vorwurfsvoller Blick ruhte auf Jacob und John Bradden.
»Mrs. Owen hat recht«, seufzte Jacob und ließ den Hahn zurückgleiten. »Wir sollten uns nicht gegenseitig erschießen, während da draußen vielleicht die Nerz Perce auf uns warten.«
Er war froh, daß Carol Owen ihn zur Vernunft gebracht hatte. Der Zorn über das, was die Menschen vom Treck im Lager der Nez Perce angerichtet hatten, hatte sein Blut sehr erhitzt - zu sehr.
Wenn er es zur Schießerei kommen ließ, brachte er auch Irene und Jamie in Gefahr. Außerdem hatte Jacob gegen die vielfache Übermacht nicht den Hauch einer Chance.
Jacob beobachtete argwöhnisch den Treck-Captain, der den großen Starr-Revolver noch immer auf den Deutschen gerichtet hielt. Der Mann mit der Narbe brauchte jetzt nur abzudrücken, und er würde Jacob für alle Zeiten los sein.
»Laß den Karabiner fallen und schnall den Waffengurt ab, Dutch!«
Bradden begleitete diesen Befehl mit einem ungeduldigen Vorstoßen seiner Waffe.
»Was tust du, John?« fragte Carol Owen, der das Knien auf dem Fahrerkasten sichtbare Anstrengung bereitete.
Braddens Blick streifte ihren Mann. »Geh zu deiner Frau, Ebenezer! Sie braucht deine Hilfe!«
Das war kein Ratschlag, sondern ein Befehl. Owen führte ihn umgehend aus. Er kletterte auf den Wagen und verschwand mit seiner Frau unter der Plane.
Bradden konzentrierte sich wieder auf Jacob und fragte scharf: »Was ist, Dutch? Worauf wartest du? Wichtige Dinge sage ich nicht gern zweimal!«
Jacob ließ den Sharps los und legte den Ledergurt mit dem Army Colt und dem Bowiemesser ab.
»Ist es so recht?« fragte er. »Schießen Sie lieber auf Unbewaffnete, Bradden?«
»Jacob!« zischte Irene warnend. In ihrer Stimme schwang unüberhörbare Angst mit.
»Wenn ich schon sterben muß, will ich diesem Feigling wenigstens sagen, was ich von ihm halte!«
Bradden lächelte dünn, legte den Revolver auf den Stein, auf dem er gesessen hatte, und sagte: »Laß uns ausprobieren, wer ein Feigling ist, Dutch.« Er hob seine Fäuste. »Falls du dich traust, dein hübsches Gesicht zu Mus schlagen zu lassen!«
Ein Faustkampf also!
»Nichts lieber als das«, erwiderte Jacob, der darauf brannte, dem menschenverachtenden Treck-Captain zu zeigen, was er von ihm hielt.
»Gut«, meinte Bradden mit einem teuflischen Grinsen. Offenbar glaubte der erfahrene Mann, mit dem jungen Deutschen leichtes Spiel zu haben.
Der Treck-Captain ging auf einen freien Platz in der Nähe des Abgrunds und stellte sich geschickterweise so hin, daß Jacob, der ihm gegenüber Aufstellung nahm, die inzwischen ganz aufgegangene Sonne ins Gesicht schien.
Bradden ließ Jacobs Augen keine Zeit, sich an das blendende Licht zu gewöhnen. Deshalb bemerkte der Deutsche den Angriff zu spät. Dann erst, als sich die Faust des Treck-Captains in sein Gesicht bohrte.
Der Schmerz und die Schwungkraft ließen Jacob zurücktaumeln. Er stolperte über eine Unebenheit des felsigen Bodens und fiel.
Als er sich aufrappeln wollte, traf ihn ein schwerer Stiefel im Gesicht und schleuderte ihn erneut zu Boden.
Jetzt wußte er, daß dies kein ehrlicher Faustkampf war, sondern ein Kampf mit allen Mitteln - und ohne Gnade, jedenfalls soweit es John Bradden betraf.
Wieder schien es, als wolle Jacob sich erheben. Unter den zustimmenden Rufen der Männer aus Greenbush ließ Bradden erneut seinen Fuß vorschnellen. Aber der Zimmermann hatte das Aufstehen nur vorgetäuscht. Er rollte sich flink zur Seite an, und Braddens Tritt ging ins Leere.
Als der Treck-Captain sich von der Überraschung erholt hatte und sich umdrehte, war Jacob bereits auf den Beinen. Jetzt blickte der Mann mit der Narbe in die Sonne.
Jacob griff ihn an. Ein heftiger Schlagabtausch war die Folge. Braddens Schläge mochten härter sein, aber Jacob war gewandter: Er schlug schneller und tauchte schneller unter den Schlägen des anderen weg, als dieser es bei den Attacken des Deutschen vermochte.
Bald wurden die Schläge des Treck-Captains fahriger, und sein Atem rasselte vor Anstrengung. Er legte sich mächtig ins Zeug, um endlich wieder ein paar Treffer zu landen, aber jedesmal wich Jacob aus.
»Stell dich endlich, verfluchter Dutch!« keuchte Bradden.
Dutch!
Eigentlich war das die Bezeichnung für einen Niederländer. Aber die Menschen in den Staaten nahmen es damit nicht so genau, und es hatte sich ebenfalls als Spitzname für die Deutschen eingebürgert. Das Deutschenviertel in New York wurde im Volksmund sogar >Dutchtown< genannt.
Normalerweise hatte Jacob nichts gegen diese Bezeichnung einzuwenden. Er hatte sich daran gewöhnt. Aber aus John Braddens Mund klang es herabsetzend, beleidigend. Fast so wie er einen Indianer eine >Rothaut< nannte oder wie die Menschen weiter östlich von >Niggern< sprachen.