Anfangs war Jacob sehr überrascht gewesen, in Amerika auf eine solche Vielzahl von Vorurteilen gegenüber andersartigen Menschen zu stoßen. Gerade in diesem Land, in das die Menschen kamen, um Unterdrückungen und Anfeindungen zu entgehen, hatte er so etwas nicht erwartet. Aber dann war er zu der Einsicht gekommen, daß die Auswanderer auch ihre schlechten Eigenschaften, wie ihre Vorurteile, mitbrachten. Man konnte das nicht verhindern. Man konnte nur gegen diese Vorurteile ankämpfen.
»Was ist mit dir, Dutch?« schrie Bradden nach einem erneuten Schlag ins Leere. »Hast du Angst vor meinen Fäusten? Rennst du deshalb vor mir weg?«
Bradden wollte ihn provozieren, damit er sich zum Kampf stellte.
Jacob tat ihm den Gefallen in einem Augenblick, als der Treck-Captain nicht damit rechnete und sich den Schweiß aus den Augen wischte. Eine rechte Gerade, eine linke und dann wieder eine rechte trafen Braddens Kinn und schickten den vierschrötigen Mann zu Boden.
Als er dort benommen lag, hätte Jacob gnadenlos zutreten können, wie Bradden es zuvor mit ihm gemacht hatte. Aber das wollte er nicht. Alles in Jacob sträubte sich dagegen, unehrlich zu kämpfen. Er wollte sich nicht die schlechten Angewohnheiten anderer aufdrängen lassen. Er wollte nicht so werden wie dieser John Bradden!
Der kam taumelnd hoch, schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Aber das täuschte. Plötzlich waren seine Bewegungen wieder sicher, und er schleuderte etwas nach Jacob.
Einen faustgroßen Stein!
Jacob sah ihn zu spät kommen. Das scharfkantige Geschoß traf seine Stirn. Als er stürzte, verwünschte er seinen Entschluß, ehrlich zu kämpfen.
Zu spät!
Etwas Schweres fiel auf ihn. Mit solcher Wucht, daß der Aufprall Jacob fast zerquetschte und ihm für Sekunden die Luft zum Atmen raubte.
Jacobs Blick war getrübt. Etwas Feuchtes verklebte seine Augen. Das Blut aus einer klaffenden Wunde an seiner Stirn.
Er wischte mit dem Ärmel über seine Augen und sah, daß John Bradden rittlings auf ihm hockte.
Braddens Faust traf ihn mit solcher Härte, als sei der Schlag mit einem schweren Hammer geführt worden. Eine Welle von Übelkeit überschwemmte den Zimmermann. Sein Schädel fühlte sich an, als wolle er auseinanderplatzen.
Er wußte, daß er weitere Schläge dieser Art nicht aushalten würde. Also sammelte er alle Kräfte und riß die Knie hoch. Sie trafen Bradden ins Kreuz und katapultierten den Treck-Captain über Jacob hinweg.
Jacob stand schwankend auf.
Jede Bewegung war ein Kampf gegen Übelkeit und Schmerzen. Aber wenn er diesen Kampf nicht gewann, würde er auch den gegen Bradden verlieren.
Der Treck-Captain kniete am Rand des Abgrunds und zwinkerte mit den Augen. Er war nicht minder angeschlagen als Jacob, eher schwerer. Jedenfalls schien er Mühe damit zu haben, sich zurechtzufinden. Die anfeuernden Rufe seiner Freunde mochten ihm vorkommen wie das starke Rauschen eines Schmelzwasser führenden Creeks.
Jacob stakste auf ihn zu. Er packte mit der Linken Braddens verschwitztes Unterhemd am Hals, zog den Treck-Captain ein Stück hoch und versetzte ihm einen rechten Haken, in den er alle verbliebene Kraft legte.
Die Haut an Braddens' linkem Mundwinkel platzte auf. Blut spritzte.
Der vierschrötige Mann gab ein gepreßtes Stöhnen von sich und sackte zusammen. Er zuckte noch einmal und rührte sich dann nicht mehr.
Jacob benötigte einige Sekunden für die Erkenntnis, daß er den Kampf gewonnen hatte.
Für ihn selbst war der Lärm der allgemeinen Erregung jetzt zu einem unbestimmbaren Rauschen geworden. Es vermischte sich mit dem Rauschen des eigenen Bluts in seinen Ohren.
Dann hörte eine vertraute Stimme heraus. Eine besorgte Stimme. Nein, nicht Besorgnis, sondern Todesangst sprach aus Irenes Schrei: »Jacob, Vorsicht, er schießt!«
Erst verstand er nicht.
John Bradden konnte gar nicht schießen! Er hatte keine Waffe. Und er war völlig erledigt.
Dann bemerkte er das Aufblitzen. Ein Revolverlauf reflektierte das helle Sonnenlicht. Die Waffe lag in Frazer Braddens Faust.
»Was hast du mit meinem Bruder gemacht, du dreckiger Indianerfreund?«
Frazer Bradden stieß die Waffe vor und zog den Hahn zurück. An dem Aufleuchten in seinen Augen erkannte Jacob, daß der Bruder des Treck-Captains im nächsten Augenblick abdrücken würde.
Jacob sprang zu Seite.
Der Schuß krachte.
Die Kugel verfehlte ihr Ziel um mehr als einen Yard.
Der junge Deutsche hatte keine Zeit, Erleichterung darüber zu empfinden.
Unter ihm gab der Boden nach, brach einfach weg.
Und mit dem lockeren Geröll stürzte Jacob in den Abgrund.
*
»Jacob, nein!«
Irene stürzte nach vorn, auf den Abgrund zu, während ihr Freund vor ihren Augen einfach verschwand.
Erst hatte sie gedacht, Frazer Braddens Kugel hätte Jacob doch getroffen. Aber dann bemerkte sie die großen Gesteinsstücke, die aus dem Boden brachen.
Sie hatte den Abgrund fast erreicht, da wurde sie von einem Paar Arme umschlungen, die sie festhielten. Irene blickte in das bärtige Gesicht von Ebenezer Owen.
»Gehen Sie nicht näher ran, Miß! Der Boden ist ganz schön brüchig. Wir wollen nicht noch jemanden verlieren.«
»Verlieren.« Sie machte sich von dem massigen Mann los, sah ihn ungläubig an. »Eben noch wollten ihre Freunde, die Braddens, Jacob umbringen!«
Owen wußte keine Antwort darauf. Die einzige Reaktion bestand in seinem bekannten Schulterzucken.
Vorsichtig trat Irene näher an den Abgrund heran. So nah, daß sie in die Tiefe blicken konnte.
Aber sie ging nicht ganz bis zum Rand. Denn noch immer bröckelten kleine Steine ab und rieselten nach unten wie versteinerter Regen.
Der zerklüftete, steinige Boden der Schlucht lag etwa dreihundert Fuß unter ihnen. Diesen Sturz konnte niemand überleben.
Aber Jacob lag dort nicht.
Sie entdeckte seinen reglosen Körper auf einem Felsvorsprung, nicht ganz auf halber Höhe.
Über diesem Vorsprung wuchsen einige Sträucher fast waagrecht aus der Wand. Sie mußten Jacobs Fall gebremst haben.
Offenbar bestand die Wand nicht nur aus Gestein, wie es auf den ersten Blick aussah, sondern auch aus Erde. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sich der Boden hier oben gelöst hatte.
Irene konnte noch nicht ganz fassen, was geschehen war.
Beim Kampf gegen John Bradden hatte sie mitgefiebert. Jeder Hieb und jeder Tritt, der Jacob getroffen hatte, hatte auch ihr Schmerzen zugefügt. Als Bradden nicht mehr aufstand, war sie so froh gewesen!
Und dann der Revolver in Frazer Braddens Faust, der fehlgehende Schuß und Jacobs Absturz - es war so schrecklich!
Sie riß sich zusammen und schrie Jacobs Namen in die Tiefe, immer und immer wieder. Auch wenn er schwer verletzt war, würde er als Antwort auf ihr Rufen sicher ein Zeichen geben!
Doch er rührte sich nicht. Auch nicht, als sie sich fast die Seele aus dem Leib brüllte.
»Er kann Sie nicht hören, Lady.«
Irene blickte über ihre Schulter und sah Ebenezer Owen.
»Sie haben recht«, nickte sie. »Er liegt viel zu tief, um mich hören zu können.«
»Nein«, widersprach der bärtige Mann. »Daran liegt es nicht. Es ist ziemlich windstill. Er müßte sie hören - wenn er noch am Leben wäre.«
Irene sah wieder hinunter auf den schmalen Felsvorsprung, gerade mal so lang wie ein Mensch und nicht ganz doppelt so breit. Es war ein Wunder, daß Jacob dort gelandet war.
Und er sollte tot sein?
Das konnte, das wollte sie nicht glauben. Der Herr ließ doch nicht solch ein Wunder geschehen, um einen Menschen dann sterben zu lassen!
»Vielleicht ist er auch nur ohnmächtig!« rief sie.