Die Menschen aus Greenbush verfielen in fieberhafte Aktivität. Ein paar Männer gingen zur Weide und holten die Tiere, während die anderen die Wagen beluden. Das Scheppern von Geschirr mischte sich mit dem Wiehern und Muhen der Pferde, Maultiere und Ochsen. Und mit dem Geschrei der Menschen.
Irene hörte das alles wie aus unendlich weiter Ferne oder wie durch einen dichten Nebel, der die Geräusche zu verschlucken drohte.
Sie blieb am Rand der Schlucht stehen und schrie immer wieder Jacobs Namen in die Tiefe, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, doch noch eine Antwort zu erhalten. Ihre bangen Augen starrten auf den reglosen Körper, gewillt, auch die winzigste Bewegung zu registrieren.
Aber Jacob antwortete nicht.
Er rührte sich nicht, lag einfach nur da, lang ausgestreckt, mit dem Gesicht auf dem Felsen.
Wie tot.
Die Wagen waren bereit zur Abfahrt. Männer kamen, um Irene zu holen. Ebenezer Owen war bei ihnen und legte vorsichtig seine Hände auf Irenes Schultern.
»Hören Sie doch endlich auf, nach ihm zu rufen«, sagte er. »Sie sind schon ganz heiser, Lady. Es hat doch keinen Sinn. Ihr Freund ist tot, glauben Sie mir.«
Tot.
Dieses eine, kurze, verhängnisvolle Worte spukte in Irenes Kopf herum, als sie neben Lewis Bradden auf dem Fahrerkasten ihres Wagens saß.
Als der Treck der Verdammten sich in Bewegung setzte und den Lagerplatz verließ.
Als sie Jacob allein zurückließ, ohne Hilfe. Den Mann, der ihr immer treu zur Seite gestanden hatte, seit sie die Reise nach Amerika angetreten hatte.
Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie ihn im Stich ließ. Gleichgültig, ob er noch lebte oder nicht. Sie hätte sich vergewissern müssen.
Irene fühlte sich, als sei ein Teil von ihr selbst gestorben. Durch das Handeln der Menschen aus Greenbush wurde sein Tod gewiß. Denn wenn Jacob zu diesem Zeitpunkt noch lebte, ohne Hilfe konnte er es nicht überleben.
Das grauenvolle Wort ließ sie an nichts anderes mehr denken, tanzte wie irre in ihrem Kopf herum: Tot.
*
Die Welt bestand aus Schmerzen, Erinnerungsfetzen, Schmerzen und nochmals Schmerzen.
Erst ganz langsam setzten sich die Bruchstücke von Erinnerungen zu Bildern zusammen, die gegen die Schmerzen Bestand hatten, sie sogar ein wenig zurückdrängten.
Aber selbst der Versuch, die flüchtigen Erinnerungen festzuhalten, war schmerzhaft. Trotzdem versuchte er es. Er wußte, daß die Erinnerungen sein Leben bedeuteten. Ließ er sie los, begab er sich in die verlockenden Arme des Schlafes, der leicht ewiges Vergessen bedeuten konnte.
Mit Planen bedeckte Wagen zogen durch die dämmerige Welt der schemenhaften Gedanken. Eine endlose Schlange aus Holz und Planen, Ochsen, Maultieren, Pferden und Menschen, die unendlich langsam über ein riesiges Gebirge kroch - die Rocky Mountains.
Die Rockies?
Plötzlich wußte er, daß dies nicht die Erinnerungen waren, die mit seinen Schmerzen zu tun hatten. Es waren alte Erinnerungen. Auch sie waren mit Schmerzen verbunden, aber mit solchen, die er längst verwunden hatte. So wie er das große Felsengebirge überwunden hatte, das wie ein von Gott geschaffener Riegel den Weg ins Gelobte Land versperrte -nach Oregon.
Aber er war in Oregon. Auch hier waren Berge - ja, die Cascade Mountains. Und auch hier war er in einem Wagenzug gewesen, ein kleiner Zug nur, bestehend aus vier Wagen.
Greenbush!
Mit dem Namen der Siedlung, aus der die Wagen kamen, kehrte auch die Erinnerung an die Ereignisse zurück, aus denen seine Schmerzen resultierten.
Schmerzen, die vom Kopf bis zu den Zehen reichten und vor keinem Glied seines Körpers haltzumachen schienen.
Jacob erinnerte sich an den Streit mit dem Treck-Captain und an den gnadenlosen Kampf gegen John Bradden.
So gnadenlos und hart, daß er jetzt jeden Knochen im Leib spürte? Hatte der Mann mit der Narbe ihn derart zusammengeschlagen?
Aber nein, Jacob hatte ihn schließlich zu Boden geschickt.
Da war etwas anderes gewesen: Irenes Stimme, ihr Warnruf, der Revolver in Frazer Braddens Faust, die Detonation und Jacobs Sprung aus der Schußlinie.
War er trotzdem getroffen worden?
Er wußte nur noch, daß die Felsen an ihm vorbeirasten. Felsen - und dann diese Büsche, die in sein Gesicht peitschten, seinen Körper einhüllten.
Danach ein Aufschlag, trotz der Abfederung durch die Büsche hart.
Die Folgen waren überwältigender Schmerz und dunkle Nacht in seinem Kopf.
Aber die Nacht hatte nicht alles ausgelöscht. Er erinnerte sich an eine Stimme, die seinen Namen rief, laut, verzweifelt, immer und immer wieder.
Oder hatte er das nur geträumt? So wie er häufig von ihr träumte - von Irene.
Irene!
Der Gedanke an sie veranlaßte Jacob, seine Augen zu öffnen. Ungewohnte Helligkeit blendete ihn. Ein Zeichen, daß die Nacht in seinem Kopf sehr lange gedauert hatte.
Dann sah er Steine von seltsamer Farbe: tief rot!
Niemals zuvor hatte Jacob solche Steine gesehen. Weder während der dreijährigen Walz durch Deutschland noch auf seiner Reise quer durch Nordamerika.
Er hob den Kopf und nahm dafür neue starke Schmerzen in Kauf, als trample ein Ochse auf seinem Schädel herum. Jetzt sah er mehr von den Steinen um sich herum und erkannte, daß nur die in seiner unmittelbaren Umgebung rot waren.
Plötzlich begriff er, daß es keine natürlich Färbung des Gesteins war, sondern sein eigenes getrocknetes Blut.
Jacob blickte sich um, und sein Atem stockte. Unter ihm war der Abgrund, und er lag auf einer kleinen Felsplatte, etwa fünf, sechs Yards unter dem Gebüsch, das aus der steilen Wand wuchs und sein Leben gerettet hatte.
Der Weg in den Abgrund war ungefähr genauso lang wie der Weg nach oben. Jacob brach bei diesem Gedanken in Gelächter aus, aber es wurde nur ein heiseres Keuchen daraus.
War es nicht komisch, daß er in Gedanken von einem Weg sprach? Dabei gab es keinen Weg, nur eine zerklüftete Steilwand.
Und Hilfe?
Jacob spähte nach oben, gegen die blendende Sonne, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
Dort war niemand, nicht Irene und nicht die Leute aus Greenbush. Niemand, der nach ihm Ausschau hielt und nach ihm rief.
Nur die Sonne, die bereits weit nach Westen gewandert war. Also war es später Nachmittag. Jacobs persönliche Nacht hatte viele Stunden gedauert.
Panik ergriff von dem jungen Deutschen Besitz.
Sie hatten ihn im Stich gelassen, selbst Irene! In einer Lage, aus der er sich nicht selbst befreien konnte.
Das einzige, was er tun konnte, war sterben - auf zwei Arten: Er konnte einfach in die Tiefe springen oder liegenbleiben, bis er verdurstete oder vielleicht auch verblutete, denn noch immer benetzte frisches Blut die Felsen.
Ein Ruck ging durch den großen Körper, und Jacob spannte jeden Muskel an. Die Energie, die ihn alle bisherigen Fährnisse hatte überstehen lassen, ließ nicht zu, daß er sich einfach in sein Schicksal ergab.
Er dachte an die vielen überwundenen Schwierigkeiten, die schon in Deutschland begonnen hatten. Die Mühe, überhaupt auf ein Auswandererschiff zu kommen! Die stürmische Fahrt über den Atlantik, die mehr als einmal zu Scheitern verurteilt schien. Und dann die vielen Abenteuer, die in der Neuen Welt auf den jungen Zimmermann gewartet hatten.
Dabei hatte er sein Ziel noch längst nicht erreicht, seine Familie noch nicht wiedergefunden. Noch nicht einmal Irene und Jamie hatte er heil bei Carl Dilger abgeliefert.
Der Gedanke an die junge Frau und ihren kleinen Sohn ließ ihn vollends wieder zu sich kommen.
Nein, Irene hatte ihn bestimmt nicht im Stich gelassen -nicht freiwillig! Daß sie und Jamie den Leuten aus Greenbush jetzt schutzlos ausgeliefert waren; war für Jacob eher mit schlechten als mit guten Gedanken verbunden.