Er mußte ihnen helfen!
Aber wie?
Es gab nur zwei Möglichkeiten: Aufstieg oder Abstieg. Beide Strecken waren ungefähr gleich lang und gleich gefährlich. Aber was sollte er unten im Canyon? Das vergrößerte nur die Distanz zu dem Wagentreck.
Also Aufstieg!
Diesen Entschluß gefaßt zu haben, versetzte ihn in Euphorie. Die Euphorie, etwas zu tun, um aus seiner mißlichen Lage zu kommen, um Irene und Jamie beizustehen.
Aber als er sich die Felsen über sich näher betrachtete, erhielt die Euphorie einen schnellen Dämpfer.
Jenseits der Büsche mochte ein Mensch, der im Klettern geübt war - und das war Jacob als Zimmermann -, einigermaßen Halt finden. Aber zwischen der kleinen Felsplatte, auf der er lag, und den Büschen war die Wand so fest und glatt wie das Eis in der Heimat, wenn die Winterkälte selbst die Elbe zufrieren ließ.
Jacobs Geist arbeitete fieberhaft - und fand eine Lösung für das Problem. Er zog sich aus, Jacke und Hemd, dann Stiefel und Hose.
Jede Bewegung bereitete ihm neue Schmerzen. Er biß die Zähne zusammen und verbannte jeden Gedanken daran, wie es erst während der Kletterpartie sein würde.
Jacob war froh, daß er Schnürstiefel trug. Er band sie mittels der langen Schnürsenkel aneinander und hängte sie dann um seinen Hals.
Ohne das dicke Leder um seine Füße konnte er besser klettern. Zwar würde ihn das Gewicht beim Aufstieg behindern, aber er würde die Stiefel brauchen, wenn er oben ankam.
Falls er oben ankam, berichtigte er sich in Gedanken.
Dann verknotete er Hose, Hemd und Jacke zu einem festen Seil mit einer großen Schlaufe, die aus seinem Gürtel bestand. Mehrmals zerrte er an der Schlaufe und an dem behelfsmäßigen Seil, um die Haltbarkeit zu prüfen.
Er stellte sich gerade an der Felswand auf und wagte den ersten Wurf. Als er mit dem rechten Arm Schwung holte, und das Schlingenende loslies, fuhr ein wahnsinniges Stechen in seine rechte Schulter. Sein unkontrolliertes Zusammenzucken brachte die Schlinge aus der Bahn. Sie verfehlte das Gebüsch um ein ganzes Stück, fiel wieder nach unten und klatschte traurig auf den Rand der Felsplatte.
Erschöpft lehnte Jacob sich mit dem Rücken gegen den glatten Fels und holte tief Atem. Wenn ihm dieser Wurf schon solche Anstrengung bereitete, wie sollte er dann die Kletterpartie überstehen?
Besorgt blickte er in den Himmel. Langsam, aber unablässig wanderte die Sonne westwärts. In die Richtung, in die vermutlich auch der Treck mit Irene und Jamie verschwunden war.
Wenn es sich nicht beeilte, würde er den Aufstieg heute nicht mehr schaffen. Eine ganze Nacht würde ihm verloren gehen.
Aber es konnte noch schlimmer kommen: Falls das Tageslicht mitten in seinem Aufstieg verlosch, war das sein Todesurteil. Doch warten wollte er nicht - wegen Irene und Jamie. Ein zweites Mal warf er die Schlinge. Jetzt war er auf den Schmerz in seiner rechten Schulter vorbereitet und ließ sich von ihm nicht beeinflussen.
Die Schlinge rutschte über das Buschwerk und blieb auf ein paar dicken Ästen liegen.
Sie lag nur locker auf den Büschen. Ganz vorsichtig zog Jacob an seinem seltsamen Seil, wobei er die Gürtel schlinge nicht aus den Augen ließ. Stück für Stück rutschte sie an den Ästen hinunter. Mehrmals verfing sie sich im Zweigwerk, und Jacob mußte das Seil hin und her ziehen, um sie wieder loszumachen. Dann lag sie endlich dicht an der Felswand, und er zog sie durch heftiges Zerren am Seil zusammen.
Er dachte an den abbröckelnden Boden, der ihn in diese fast ausweglose Lage gebracht hatte. Falls die Büsche in ebenso lockerem Erdreich saßen, konnte es seinen Tod bedeuten, wenn er sein ganzes Gewicht an das Seil hängte.
Doch er verwarf den Gedanken, die Haltbarkeit der Buschwurzeln dadurch zu prüfen, daß er sich ans Seil hängte. Vielleicht hielten Wurzeln und Erdreich eine nur kurze Weile. Er wollte diese Zeit nicht durch seinen Test unnötig verkürzen.
Er atmete noch ein paarmal gut durch und begann dann den Aufstieg. Vorsichtig erst, dann schneller, als er merkte, daß sein Seil und auch das Buschwerk hielten.
Etwas Erdreich rieselte in sein Gesicht und trieb ihn zu noch größerer Eile an.
Jacob atmete erleichtert auf, als seine Hände in das Buschwerk griffen. Er zog sich daran hoch und fand hinter den Büschen eine kleine Aushöhlung, in die er sich mit eng an den Körper gezogenen Beinen kauerte.
Hier erholte er sich ein, zwei Minuten und machte das Seil vom Gebüsch los. Er band es um seinen Körper, da kein Felsvorsprung in seiner Nähe war, um den er die Schlinge hätte werfen können. Zum richtigen Anziehen war sein Ruheplatz zu klein; er wäre bei dem Versuch unweigerlich abgestürzt.
Dann kletterte er weiter, eng an die Steilwand gepreßt, sich nur auf die Kraft seiner Finger und Zehen verlassend.
Bald hatte er seine Strümpfe durchgeschabt, und die Füße waren ebenso blutig wie die Hände.
Weiter!
Fingernägel brachen ab. Blut rann an seinen Händen entlang, machte das Gestein glitschig und erschwerte dadurch seinen Halt.
Weiter!
Jedesmal, wenn er den rechten Arm bewegte, schoß das Stechen durch die Schulter.
Er mußte trotzdem weitermachen.
Sein Stöhnen und sein schmerzverzerrtes Gesicht hätten einem Beobachter verraten, wie sehr Jacob litt.
Hätten?
*
Unablässig folgte der Blick des Mannes den verzweifelten Bemühungen des Kletterers. Er lag am oberen Rand des Canyons unweit des Platzes, wo der Treck gelagert hatte, hinter einem Grasbüschel auf dem Boden.
Mehrmals sah es so aus, als würde der Kletterer den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen - diesmal endgültig. Doch er war ein kräftiger, gewandter Mann und fand jedesmal noch einen Halt, der seine Lebensspanne wenigstens um kurze Zeit verlängerte.
Der dunkelhäutige Mann in der fransenbesetzten Lederkleidung beobachtete all diese Bemühungen des hellhaarigen Weißen, wie er als Kind die Kettennattern in der Nähe des Kaminu-Lagers beobachtet hatte, die Eidechsen, Mäusen, Vögeln und sogar anderen Schlangen auflauerten und sie dann zu Tode würgten.
Es war keine Frage, ob der Tod eintrat.
Die Frage war nur: wann?
Aber dann sah es so aus, als würde es der Weiße tatsächlich schaffen. Weiter oben war die Wand des Canyons nicht mehr ganz so steil. Der Kletterer fand mehr Halt und kam schneller voran.
Riding Bear griff hinter sich nach Pfeilköcher und Bogen. Bei seinen toten, skalpierten Brüdern hatte er reichlich gefunden, was er zum Überleben und zum Vollenden der Rache an den Weißen benötigte: Verpflegung, Pferde und Waffen. Nur keine Feuerwaffen. Die Weißen waren vorsichtig gewesen und hatten sie mitgenommen oder unbrauchbar gemacht.
Er legte den aus dem Holz eines Haselnußstrauches geschnitzten Pfeil ein und spannte den Bogen. Er zielte, bis die dreieckige Eisenblechspitze genau auf den Hals des Weißen zeigte. Sobald er den Pfeil von der Sehne ließ, würde er das Bleichgesicht unweigerlich in den Abgrund reißen.
Einer der verhaßten Weißen weniger!
*
»Haaalt!«
Während sein Ruf ertönte, zügelte John Bradden den klobigen Rappen und hob die rechte Hand. Die Fahrer brachten die Wagen zum Stehen, und die Reiter scharten sich um den Treck-Captain.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung durchquerte der Wagenzug ein großes, langgestrecktes Tal, in dessen Mitte ein kleiner Pinyonhain lag, direkt vor dem Treck.
»Wollen wir jetzt schon rasten, John?« fragte Fred Myers vom Bock seines Wagens. »Wir haben noch etwa eine Stunde Tageslicht. Das sollten wir ausnutzen. Es bedeutet eine weitere Stunde Vorsprung vor den Roten.«
Der Treck-Captain schüttelte den Kopf.
»Die Tiere sind erschöpft, Fred. Die letzte Stunde würde nicht viel bringen, zumal das Gelände vor uns wieder ansteigt. Außerdem ist dieser Pinyonwald eine ideale Deckung. Niemand kann uns sehen, aber wir können jeden sehen, der sich uns nähert. Einen besseren Lagerplatz finden wir bestimmt nicht.«