»Das ist die falsche Richtung, Ebenezer«, keuchte Carol mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Wir müssen auf die anderen Seite. zu Bill!«
»Wir können nichts für ihn tun«, erwiderte der Mann hart. »Wahrscheinlich ist er längst tot.«
Er sprach über seinen Schwager so gefühllos wie über ein zerquetschtes Insekt. Die Angst, die das Gesicht seiner Frau überzog, schien er gar nicht zu bemerken.
Ebenezer Owen stieß seinem Pferd gnadenlos die Hacken seiner abgewetzten Stiefel in die Flanken und trieb es in den Schutz einiger Pinyon-Bäume. Er hoffte, sie würden ihn und Carol den rachsüchtigen Blicken der Nez Perce entziehen.
Hinter ihnen blieb der noch immer reglose Bill Myers einsam am Ufer zurück. Und die anderen beiden Wagen mit neun ihrer Gefährten: Manner und Frauen, die um ihr Überleben kämpften.
Das letzte, was die Owens von ihnen sahen, war, wie die Wagen auf eine bewaldete Anhöhe fuhren, um dort eine Verteidigungsstellung zu bilden.
Dann hörten sie nur noch die Schüsse und Schreie, die allmählich leiser wurden.
*
»Ebenezer haut ab!«
Frazer Bradden brüllte es gegen den Lärm der schreienden Tiere und Menschen und der Schüsse an, während er den von sechs Maultieren gezogenen Wagen hinter ein paar großen Fichten abstellte und die Bremse anzog.
Sein älterer Bruder John, der Führer des kleinen Trecks, drehte sich im Sattel des klobigen Rappen um und blickte hinunter ins Tal, wo Ebenezer Owen und seine Frau gerade aus dem Creek ritten.
»Yeah, verdammt!« Der vierschrötige Mann mit der feuerroten Narbe, die ihm quer über das Gesicht lief, spuckte aus. »Sie lassen uns im Stich. Wo steckt Bill?«
Frazer Bradden kniff die Augen zusammen und blickte angestrengt in Richtung Creek.
»Er liegt noch am Ufer, wo dieser verdammte Pfeil ihn erwischt hat.«
John Bradden wandte sich an den Mann auf dem Bock des zweiten Wagens, einen schmalen kleinen Burschen mit zerknittertem Gesicht. Es war Fred Myers, Bills älterer Bruder.
»He, Fred, einen feinen Schwager hast du. Er läßt uns mit diesen roten Teufeln allein. Bill liegt noch da unten. Ebenezer war der einzige von uns, der ihm hätte helfen können.«
»Wer weiß.«
Mehr konnte Fred Myers nicht sagen. Eine Kugel fetzte dicht neben seinem Kopf ein Stück der Wagenplane weg.
»Fred, ist dir was passiert?«
Seine Frau Anne streckte ihren Kopf aus dem Innern des Wagens, das Gesicht von Todesangst gezeichnet.
»Nein, geh zurück! Hast du das Gewehr geladen?«
Anne nickte und reichte ihm den alten Scott-Vorderlader.
Der kleine Mann sprang vom Wagen zwischen seine drei Deckung suchenden Söhne und beobachtete das sanft abfallende Gelände.
Er entdeckte den Indianer, der auf ihn geschossen hatte. In fünfzig Yards Entfernung hockte der Nez Perce hinter einem länglichen Felsblock. Auch er war mit einem Vorderlader ausgerüstet und rammte die nächste Ladung gerade mit dem Stock fest.
Fred Myers legte an, zielte und drückte in dem Augenblick ab, als der Rote den Ladestock aus dem Lauf zog.
Der Nez Perce schrie auf, und der Ladestock flog durch die Luft. Der Indianer sackte zusammen und rührte sich nicht mehr.
»Einer weniger von dem Abschaum«, knurrte der kleine Mann zufrieden und drehte sich zu seinen drei Söhnen um.
Er sah gerade noch, wie der Pfeil Robs Hals durchschlug. Sein jüngster Sohn ließ den Colt fallen und brach mit glasigem Blick zusammen.
Hufgetrappel riß Fred Myers aus seinem Entsetzen. Der Krieger, der seinen Sohn getötet hatte, galoppierte zwischen den Bäumen hindurch. Er hatte den Bogen mit einem federgeschmückten Tomahawk vertauscht.
Sam und Pete, die älteren Brüder des toten Rob, riefen ihrem Vater zu, er möge beiseite springen. Beide legten auf den Roten an. Aber Fred Myers hörte nicht auf sie.
Ganz im Gegenteil, er griff den herangaloppierenden Nez Perce an und schlug mit dem Kolben seines Vorderladers nach ihm.
Das fleckige Pferd stürmte an dem Weißen vorbei, aber der Indianer fiel zu Boden.
Fred Myers stürzte sich auf ihn und zog noch im Sprung sein Green-River-Messer.
Doch er landete auf nacktem Boden.
Der Nez Perce hatte sich weggerollt, kam auf die Knie und schwang erneut den Tomahawk. Die Klinge flog auf den Kopf des Weißen zu...... und der Rote brach zusammen. Der Tomahawk sauste an dem kleinen Mann vorbei.
Fred Myers hörte die doppelte Detonation. Sam und Pete hatten fast gleichzeitig geschossen.
Er rappelte sich auf und starrte auf das große rote Loch im Rücken des Nez Perce.
»Verwünschte Rothaut!« Er spuckte auf den toten Indianer. »Du bist viel zu schnell gestorben!«
»Komm endlich in Deckung, Fred!« schrie John Bradden, während er eine neue Patrone in seinen Karabiner schob.
»Die Rothaut. hat Rob ermordet«, stammelte der kleine Mann.
»Ich weiß.« Bradden ließ keine Gefühlsregung erkennen. »Kein Grund, dich auch umbringen zu lassen. Also sei vernünftig und such dir Deckung!«
Fred sprang hinter seinen Wagen, wo Sam und Pete mit ihrer Mutter kauerten. Anne weinte still und hielt die Leiche ihren jüngsten Sohns im Arm.
»Erst die Mädchen. und nun Rob«, schluchzte sie. »Sollen wir denn alle verlieren?«
Sie blickte zu ihrem Mann auf, als sei dieser der Allmächtige.
»Ich weiß es nicht«, seufzte Fred Myers und lud seine ScottFlinte nach. »Wenn es denn sein soll, verkaufen wir unsere Haut so teuer wie möglich. Ich möchte noch viele Nez Perce sterben sehen.«
Das Gebiet rund um den Hügel war ruhig. Zu ruhig.
Nicht nur die Indianer waren verschwunden, auch sämtliche Tiere der Wildnis schienen den Atem anzuhalten.
Deutlich drang das Gurgeln des Creeks bis zum Hügel herauf. Das Wasser rauschte noch immer um Ebenezer Owens Wagen, der verlassen im Wildbach stand.
»Wo sind die Rothäute?« fragte Frazer Bradden.
»Vielleicht haben wir sie verjagt«, meinte John Braddens Sohn Lewis.
»Bestimmt nicht«, knurrte sein Vater. »Die kommen wieder, verlaßt euch drauf. Und sie sind bestimmt nicht weit entfernt. Laßt es euch nicht einfallen, die Deckung zu verlassen! Darauf warten die roten Teufel nur.«
»Ob Ebenezer durchgekommen ist?« fragte Pete Myers.
»Vielleicht holt er Hilfe!«
John Bradden schüttelte den Kopf.
»Selbst wenn er durchgekommen ist, Hilfe gibt es hier nicht. Wir sind die einzigen Weißen im Umkreis von zwanzig Meilen.«
In Pete Myers' Gesicht zuckte es, und seine Hände umklammerten die doppelläufige Schrotflinte fester. Aufmerksam suchten seine Augen das Tal ab.
Wo steckten die hinterhältigen Roten bloß?
*
Eine knappe Meile von dem Creek entfernt näherte sich ein weiterer Planwagen dem Ort des Überfalls.
Die vier Zugpferde trotteten ruhig vor sich hin. Sie waren so ruhig wie die drei Menschen auf dem Fahrerkasten.
Der kleine, zehn Monate alte Jamie schlief, fest in wärmende Decken verpackt, in den Armen seiner schönen Mutter.
Irene Sommers grünblaue Augen waren in weite Ferne gerichtet, jenseits der vor ihnen aufragenden Gebirgszüge der Cascade Range, die sie hinter sich bringen mußten, um zur Pazifikküste zu gelangen.
Sie blickten in ein Land, daß Irene nur dem Namen nach kannte: Kalifornien.
Dort sollte sich Jamies Vater aufhalten, um nach Gold zu suchen. Gold, mit dem Carl Dilger für sich, für Irene und für Jamie, den er niemals gesehen hatte, eine Zukunft aufbauen wollte.
Die drei Menschen waren unterwegs zur Küste, um mit einem Schiff in jenes Land im Süden zu fahren.
Vor drei Tagen hatten sie Abners Hope verlassen, den kleinen Ort, den die Auswanderer in zäher Arbeit aus dem Boden gestampft hatten, kurz bevor der Winter hereinbrach.