Früher war ihm das nie passiert. Jede Waffe hatte stets ruhig in seinen Händen gelegen.
Aber die Kugel der weißen Frau, die tief in seiner Brust saß, schwächte ihn, trotz der heilenden Kräuter, die er auf die Wunde gelegt hatte. Die Kräuter halfen, die Blutung zu stillen und die Wunde rasch zu verschließen. Doch die Kugel steckte noch in seiner Brust, schmerzte bei jeder Bewegung, manchmal fast unerträglich.
Es war eine Kugel der Weißen!
Die Bleichgesichter hatten ihn verwundet, hatte seine Brüder getötet und skalpiert, wie sie es mit Kindern, Frauen und Alten im Lager der Kaminu getan hatten. Es gab keinen Grund, sie zu schonen!
Riding Bear nahm die Kraft der Erde, auf der er lag, in sich auf. Sie kühlte seinen Schmerz und ließ seine Arme und Hände ruhiger werden.
Gerade als die Eisenspitze wieder auf den weißen Mann zeigte, setzte er sich in Bewegung und kletterte trotz seiner offensichtlichen Erschöpfung weiter.
Trotz allen Hasses auf die Weißen mußte Riding Bear ihn bewundern. So weit wie er wäre selbst mancher Krieger der Kaminu nicht gekommen.
Der Weiße blickte nach oben, suchte einen neuen Halt für seine aufgerissenen, blutigen Hände. Da erkannte der Rote sein Gesicht. Es war einer der beiden Männer, die den weißen Frauen zu Hilfe gekommen waren.
Er dachte an seinen Angriff auf den Planwagen und an die goldhaarige junge Squaw, die auf ihn geschossen hatte. Als er verwundet auf dem Pferd saß, so dicht vor ihr, hätte sie ihn töten können.
Er hatte viel darüber nachgedacht, weshalb sie es nicht getan hatte. Es konnte kein Versehen gewesen sein, daß ihre Kugel in die Erde unter seinem Appaloosa fuhr.
Sie hatte sein Leben verschont.
Warum?
Die Erkenntnis, daß nicht alle Weißen so schlecht waren, wie er und seine Brüder in ihrer Trauer und ihrem Haß glaubten, reifte nur langsam in Riding Bear heran. Zu frisch war noch die Trauer, zu stark der Schmerz über den erlittenen Verlust.
Wieder schwankte die Pfeilspitze.
*
Etwas blendete Jacob, wie ein kurzer Flammenstrahl. Er bohrte seine Finger und Zehen ins Erdreich, fand einigermaßen Halt und schaute nach oben.
Jetzt war nichts mehr zu sehen. Aber er war sich ziemlich sicher, daß da etwas gewesen war. Über ihm, am Rand des Canyons. Etwas, das das Licht der unaufhaltsam sinkenden Sonne zurückgeworfen hatte. Wie Glas oder Metall.
Das konnte kein Tier sein!
Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts entdecken. Alles schien ruhig zu sein da oben.
Doch er wußte jetzt, daß dies eine Täuschung war. Etwas oder jemand lauerte dort auf ihn.
Jacob kletterte weiter.
Er hatte keine Wahl.
Seine Kräfte ließen ebenso rasch nach wie das Tageslicht.
Und er dachte an Irene. Er spürte, daß sie sich in Gefahr befand, als könne er ihre Gedanken lesen.
Irene brauchte Hilfe!
*
Ruhig! Du mußt ruhig sein! Überlege! Du mußt einen Ausweg finden, sonst ist Jamie ganz allein!
Mit diesen Gedanken bekämpfte Irene ihre Panik angesichts der nur wenige Zoll vor ihrem Gesicht schwebenden Klinge des großen Bowiemessers.
Wenn sie durchdrehte und hysterisch wurde, war alles verloren. Dann hatte Frazer Bradden leichtes Spiel mit ihr. Und dann konnte er den Triumph feiern, sich an ihrer Todesangst zu laben.
Sie las in seinen fiebrigen Augen, daß er genau das wollte. Es schien seine Rache dafür zu sein, daß seine Frau und seine Kinder gestorben waren, vielleicht in ähnlicher Todesangst.
So mußte es auch den Nez Perce gegangen sein, die von dem Treck überfallen worden waren. Irene erschauerte bei der Vorstellung, wie ein ganzes Dorf von diesen Wahnsinnigen niedergemetzelt worden war.
»Hast du Angst?« fragte ein grinsender Frazer Bradden.
Irene spürte seine Freude und seine Erregung. Sein schlechter Atem ging schneller, und seine Linke preßte sich noch fester auf ihren Mund. Die schmutzigen Finger drangen zwischen ihre Lippen und lösten Ekel in ihr aus.
Irene würgte.
»Meine Frau hat auch so gewürgt, als sie keine Luft mehr bekam«, sagte Bradden leise, scharf. »Aber es ging nicht schnell. Sie mußte leiden, lange leiden, bis sie tot war.«
Er drückte die Messerklinge gegen den Haaransatz auf Irenes Stirn und fuhr fort: »Du hast dagegen richtig Glück. Erst wird der Schmerz groß sein, wenn ich dir die Kopfhaut abziehe. Aber dann wird es sehr schnell gehen. Mein Messer wird dein Hurenherz durchbohren!«
Tu etwas! befahl Irene sich selbst. Unternimm endlich etwas - für Jamie!
Sie biß fest zu und riß gleichzeitig ihr rechts Bein nach oben. Ihre Zähne bohrten sich in Braddens Finger und ihr Knie in seinen Schritt.
Der Mann schrie auf und machte einen überraschten Schritt zurück. Er krümmte sich vor Schmerz zusammen und starrte auf die blutigen Finger seiner Linken.
Selbst sein Blut schmeckte ekelhaft. Irene spuckte aus, als sie durch das dichte Gehölz fortlief.
Ihr fehlte jede Orientierung. Sie rannte einfach nur, floh vor diesem Wahnsinnigen.
Hinter sich hörte sie seine Schritte, das Knacken von Zweigen, keuchenden Atem.
Wie nah war der Verfolger?
Sie blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern.
Das war ein Fehler.
Nur für eine Sekunde achtete sie nicht auf den Boden. Aber das genügte, damit sich ihr Fuß in einer bogenartig hervorspringenden Baumwurzel verfing. Sie stürzte lang hin.
Eine schwere Gestalt brach hastig durch das Unterholz. Schnaufend blieb Frazer Bradden über Irene stehen, schaute zornig und zufrieden zugleich auf sie hinab.
»Jetzt ist endgültig Schluß!« keuchte er und beugte sich über sie.
Seine Linke packte Irenes blonden Schopf, und die Klinge fuhr auf ihren Kopf zu.
*
Irene!
Jacob wußte nicht, ob er ihren Namen laut schrie oder ob diese Schrei nur durch seinen Kopf raste.
Er spürte fast körperlich die Gefahr, in der sie sich befand. Schweiß brach ihm aus allen Poren.
Der erschöpfte Mann an der Canyonwand beeilte sich noch mehr, obwohl es sinnlos war. Irene war sicher meilenweit von ihm entfernt.
Doch er mußte etwas unternehmen. Das Gefühl, die geliebte Frau in Gefahr zu wissen, war ihm unerträglich.
Jeder noch so kleine Felsvorsprung wurde zum Halt für Hände und Füße. In jede Vertiefung im Erdreich krallten sich seine Finger und Zehen.
Immer weiter!
Immer höher!
Jacob sah weder nach oben noch nach unten, suchte nur nach dem nächsten Haltepunkt. Deshalb war er überrascht, als sich der Canyonrand nur noch knapp drei Fuß über ihm befand. Er hatte es fast geschafft!
Noch zwei Fuß, noch einen, und dann schob er seinen Kopf
über den Rand......und blickte auf die im letzten Sonnenlicht schimmernde Eisenspitze eines Pfeils.
Dahinter war ein Gesicht: dunkel, hart, kantig. Die dünnen Lippen unter der geraden Nase waren zusammengepreßt. Die schmalen Augen über den ausgeprägten Wangenknochen musterten Jacob, wie ein Jäger die Beute vor seinem Lauf betrachtete: kalt, berechnend, mit der Verheißung des nahen Todes.
Nein, nicht vor dem Lauf - vor dem Pfeil! Wie erstarrt hing Jacob am oberen Rand des Canyons, ohne eine Chance, dem Verhängnis zu entkommen. Er konnte nicht schnell genug nach oben klettern. Er konnte nur loslassen und in die Tiefe stürzen, in den sicheren Tod... Die Pfeilspitze bewegte sich, zitterte...
*
Riding Bear zwang sich mit letzter Kraftanstrengung, Pfeil und Bogen ruhig zu halten.
Ganz dicht war das Gesicht des Weißen vor ihm. Natürlich stand Angst in den Zügen. Aber es war eine seltsame Angst. Nicht die Angst vor dem eigenen Tod. Eher Sorge und Trauer. Es war das Gesicht eines Mannes, dem das Beenden einer wichtigen Aufgabe verwehrt wurde.