»Ich möchte einen Blick auf die Wunde werfen«, sagte Irene und hielt das Messer hoch. »Darf ich den Ärmel aufschneiden?«
»Nicht nötig.« Die Verwundete wollte den Kopf schütteln, aber es wurde nur eine angedeutete Bewegung daraus. »Der Pfeil muß sowieso raus. Wenn Sie das zuerst machen, bleiben meine Sachen heil.«
»Aber wie?« fragte Irene zweifelnd.
»Sie haben doch sicher einen Hammer dabei.«
Irene nickte.
»Natürlich.«
»Gut.« Mrs. Owen versuchte ein Lächeln, aber heraus kam nur eine Verzerrung ihrer gequälten Züge. »Der Pfeil ist zum Glück ganz durchgegangen. Wäre er auf einen Knochen gestoßen, wäre die Sache nicht so einfach.«
Sie hustete und fuhr dann fort: »Sie müssen den Pfeil hinten abbrechen, aber nicht gleich hinter meinem Arm. Lassen Sie eine knappe Fingerlänge vom Schaft übrig. Den müssen Sie mit dem Hammer treffen, mit einem Schlag, und zwar so, daß der Pfeil vorn rausgeht. Sie müssen kräftig zuschlagen, das ist sehr wichtig! Wenn der Pfeil im Arm stecken bleibt und hinten nicht mehr herausschaut, dann wird es übel.« Sie hob den Kopf und blickte in Irenes Augen. »Trauen Sie sich das zu, junge Lady?«
»Ich muß wohl«, sagte Irene mit heiserer Stimme.
Ihr war nicht wohl dabei. Am liebsten hätte sie auf die Rückkehr von Jacob und Ebenezer Owen gewartet.
Würden sie denn zurückkehren?
Die junge Frau erschrak bei diesem Gedanken und verdrängte ihn schnell. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, daß Jacob irgendwann nicht mehr für sie und Jamie da sein würde.
Sie stieg wieder in den Wagen, holte den Hammer, festen sauberen Stoff - eine von Jamies Windeln - als Verbandszeug und die Flasche mit Whiskey, die Martin ihnen mitgegeben hatte.
»Man weiß nie, wozu man das Zeug braucht«, hatte er mit einem Grinsen quer über sein heiteres Sommersprossengesicht gesagt. »Es desinfiziert alles, innen wie außen. Und zur Not wärmt es auch, wenn der Regen das Feuer ertränkt.«
Sie deponierte die Sachen neben der Verwundeten, packte mit beiden Händen den Indianerpfeil und zerbrach ihn in der von Carol Owen beschriebenen Weise.
»Es geht doch«, versuchte Mrs. Owen ihr Mut zu machen.
»Bis jetzt noch«, erwiderte Irene skeptisch. »Ich warne Sie, ich habe so etwas noch nie gemacht.«
»Ist das im Wagen Ihr erstes Kind?«
»Ja«, antwortete Irene verwirrt. Sie verstand nicht, was diese Frage bedeuten sollte. Sie wollte sich lieber auf das Bevorstehende konzentrieren, als über Jamie zu plaudern.
»Sehen Sie, das hat doch auch geklappt«, meinte die verletzte Frau. »Obwohl sie es vorher noch nie gemacht haben.«
Irene lächelte; sie fühlte sich ein wenig besser.
»Wenn Sie es so sehen.«
»Was bleibt mir übrig?«
Die Frau aus Deutschland nickte und griff nach dem Hammer. »Sie sollten mit der Hand ins Wagenrad greifen, Mrs. Owen, damit Sie einen festen Halt haben«, schlug sie vor. »Ich möchte den Arm nicht verfehlen, weil er zittert. Meiner zittert schon genug.«
»Ein guter Vorschlag.« Stöhnend drehte sich Carol Owen um, kniete sich hin und griff mit der rechten Hand um eine der hölzernen Speichen. »Ich bin bereit.«
»Ich wünschte, ich auch«, murmelte Irene.
Sie stellte sich neben Mrs. Owen, fixierte mit festem Blick das abgebrochene Pfeilende und streckte die rechte Hand mit dem schweren Hammer aus, um Schwung zu holen. Sie atmete tief durch.
In diesem Moment brach das Unterholz. Ein Pferd wieherte, gefolgt von Hufschlag.
Die Köpfe beider Frauen ruckten nach rechts. Was sie sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
Ein indianischer Krieger galoppierte auf sie zu, das dunkle Gesicht vor Haß verzerrt. Am linken Arm trug er einen großen ovalen Schild. Die rechte Hand hielt eine Lanze, die er stoßbereit angelegt hatte, um seine Opfer aufzuspießen.
Irene dachte an Jamie, der wehrlos im Wagen lag. Sie betete, daß er ruhig sein würde, damit der Indianer ihn nicht fand -falls er nach dem Tod der beiden Frauen den Wagen nicht sowieso durchsuchte.
Daß Irene und Carol Owen sterben würden, schien gewiß. Die Absicht des Angreifers war eindeutig. Und er näherte sich so schnell, daß Irene den Revolver auf dem Fußtritt nicht rechtzeitig erreichen konnte. Warum? dachte sie verzweifelt. Nach all den Strapazen!
*
Jacob und Ebenezer Owen bogen im scharfen Galopp um eine Felsgruppe, und der Creek lag vor ihnen. Sie hielten die Pferde an, um die Lage zu peilen. Es war noch alles so, wie Owen es verlassen hatte.
Sein Wagen stand im Wasser und wurde von der rauschenden Flut umspült.
Die Ochsen brüllten nervös. Sie merkten, daß etwas nicht stimmte. Es ging nicht weiter. Und sie spürten die unangenehme Kälte des Wassers, das Unmengen an geschmolzenem Schnee mit sich führte. Aber sie waren nicht in der Lage, sich aus eigener Kraft zu helfen.
»Die blöden Viecher«, grunzte der bärtige Mann. »Sie würden dort so lange stehen, bis sie erfrieren oder verhungern.« Er gackerte. »Nun ja, wenigstens können sie nicht verdursten.«
Sein Gesicht wurde wieder ernst, als er zu dem bewaldeten Hügel hinaufsah. Die Planen der beiden anderen Wagen leuchteten zwischen den Bäumen im Sonnenlicht. Immer wieder krachten Schüsse. Eine Pulverwolke hing über dem Hügel.
»Sie halten sich ganz gut«, stellte Jacob fest.
»Yeah. Fragt sich nur, wie lange noch.«
Owen trieb sein Pferd wieder an, und Jacob folgte ihm.
»Wohin?« rief er Owen zu.
»Bei meinem Wagen über den Creek. Dort ist das Wasser nicht so tief.«
Sie lenkten die Pferde ins Wasser.
Owen hielt sein Tier neben dem Planwagen an. Jacob tat es ihm nach und fragte: »Was ist?« »Ich muß etwas holen.« Owen stieg auf den Fahrerkasten, griff ins Innere und brachte einen langläufigen Revolver zum Vorschein. »Der kann uns noch nützlich sein.«
Er steckte die Waffe in seinen Hosenbund und eine Schachtel Munition in die Jackentasche.
Dann stieg er wieder aufs Pferd, und sie setzten ihren Weg fort.
Plötzlich scheute Jacobs Pferd und hätte ihn fast abgeworfen. Er hielt sich mit Mühe im Sattel.
»Die Rothaut hat das Tier erschreckt«, grinste Owen.
»Welche Rothaut?«
»Die!« Der bärtige Mann zeigte auf die Leiche, die im Wasser lag. »Das Schwein, das auf Carol geschossen hat und auf mich schon angelegt hatte, aber meine Clabrough war schneller.« Mit zufriedenem Gesichtsausdruck tätschelte er den langen Lauf der Flinte.
Am anderen Ufer hielten sie erneut an, wieder an einem Mann, der reglos vor ihnen lag.
»Das ist Bill, Carols Bruder. Vielleicht lebt er.«
Owen brach ab, als er das Blut sah, das den Kopf des hageren Mannes verklebte. Überall. Dafür fehlte in der Mitte der Kopfhaut das Haar.
»Diese Hunde!« Mit flackerndem Blick sah Owen zu dem Hügel hinauf, wo der Kampf tobte. »Einer der roten Teufel war in der Zwischenzeit hier und hat Bill skalpiert. Zeigen wir es ihnen!«
Er wollte sein Pferd antreiben, direkt auf den Hügel zu, aber Jacob griff ihm in die Zügel.
»Was haben Sie vor?« fragte der deutsche Auswanderer.
»Was wohl? Wir reiten auf den Hügel und helfen meinen Leuten!«
»Dann sitzen wir genauso in der Falle wie sie. Ich bezweifle, daß zwei Gewehre mehr auf dem Hügel die Entscheidung bringen.« »Wollen Sie etwa feige abhauen, Adler?« rief Owen zornig. »Hat ihnen der Anblick meines skalpierten Schwagers die Lust auf den Kampf genommen? Noch nie einen Toten gesehen?«
»Schon zu viele«, sagte Jacob leise und dachte an den verlustreichen Oregon-Treck. »Ich will nicht abhauen. Aber ich will auch nicht blindlings ins Verderben reiten. Glauben Sie denn, die Nez Perce lassen uns so einfach durch ihre Linie brechen?«