»Was dann?« fragte Owen ratlos.
»Wir müssen sie unter zwei Feuer nehmen, das wird sie verwirren.« Jacob zeigte auf eine Felsspitze, die sich noch oberhalb des bewaldeten Hügels erstreckte. »Von da oben haben wir freies Schußfeld.«
»Yeah.« Owen strich überlegend durch seinen Bart. »Das könnte hinhauen. Falls die Roten uns dahin lassen.«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!«
»Wohl wahr«, stimmte Owen zu. »All right, versuchen wir's!«
Und sie lenkten ihre Pferde zu den steilen, zerklüfteten Felsen.
*
Noch fünf Pferdelängen. Vier. Drei. Zwei. Der berittene Krieger kam rasend schnell näher. Und die eiserne Spitze seiner Lanze zeigte auf Irene.
Der Gedanke an ihr hilflos im Wagen liegendes Kind löste sie aus ihrer Erstarrung. Sie wirbelte herum und schleuderte den Hammer, mitten in das verzerrte Gesicht des Nez Perce.
Der riß schützend seinen großen Schild hoch.
Die Lederbespannung zeigte einen Mann, der auf einem Pferd saß, ein Krieger mit einer großen Keule in der Hand. Das Erschreckende an dem Bild war der Kopf des Mannes. Es war nicht der eines Menschen, sondern der eines Bären.
Irenes Wurf kam so überraschend für den Nez Perce, daß er nicht schnell genug reagierte. Der Hammer prallte nicht ganz am Schild ab, sondern wurde von ihm nur abgelenkt. Aber er streifte noch den Kopf des Kriegers. Ein Schmerzensschrei kam über seine Lippen. Instinktiv riß er seinen Appaloosa herum, und die schwere Eisenspitze der Lanze verfehlte Irene.
Der Krieger galoppierte an den beiden Frauen vorbei, zügelte sein Pferd und wendete es. Seine linke Stirnhälfte, wo der Hammer ihn getroffen hatte, waf blutüberströmt. Das ließ sein haßverzerrtes Gesicht noch furchterregender aussehen.
Er stieß einen gellenden Schrei aus und trieb sein Pferd wieder an, die Lanze zum Todesstoß gesenkt.
*
Jacob und Ebenezer Owen waren am Fuß des kleinen Felsmassivs abgestiegen und hatten ihre Pferde an einem Haselnußstrauch festgebunden.
Das Gelände war zu steil, zu schwierig für die Tiere. Sie mitzuführen machte keinen Sinn und hätte zuviel Zeit gekostet.
Der junge Zimmermann war beweglicher als der massige, mindestens zwanzig Jahre ältere Owen; er erreichte die waagrecht vorspringende Felsnadel mit einigem Vorsprung.
Mehrere kleine Felsen saßen wie Furunkel auf der Nadel. Als Jacob nach vorn ging, tauchte hinter einem dieser kleinen Felsen eine Feder auf, dann langes schwarzes Haar und ein dunkles, von harten Linien gezeichnetes Gesicht.
Haßerfüllt blickte der Nez Perce ihn an und hob seinen alten Vorderlader.
Jacob sah weit und breit keine Deckung und ließ sich einfach fallen.
Zwei Schüsse krachten.
Die Kugel des Indianers pfiff über Jacob hinweg und klatschte irgendwo hinter ihm gegen einen Felsen.
Aber der zweite Schuß?
Dann erst begriff Jacob, daß er bei seinem Sturz versehentlich den Sharps-Karabiner abgefeuert hatte. Da er nicht auf den Nez Perce gezielt hatte, war die Kugel einfach in die Luft gegangen.
Beide Waffen waren leergeschossen.
Der Rote drehte sein altertümliches Schießeisen um, hielt es wie eine übergroße Keule und stürmte auf den Weißen zu.
Jacob rollte sich herum, so daß er auf dem Rücken lag. Er kam nicht mehr zum Aufstehen. Der Angreifer war zu schnell bei ihm und ließ den schweren Kolben seiner Waffe auf ihn heruntersausen.
Der Deutsche packte den Sharps mit beiden Händen, riß ihn hoch und fing den Schlag ab.
Der Nez Perce hob den Vorderlader wieder, um erneut zuzuschlagen.
Jacobs Beine umklammerten scherenartig die des Gegners.
Der Indianer wankte und kam zu Fall. Der Vorderlader entglitt seinen Händen.
Jacob ließ den Sharps ebenfalls los und warf sich auf den Nez Perce.
Da hatte der Rote schon ein Messer mit leicht gekrümmter Klinge aus der fellbesetzten Scheide an seiner Seite gezogen. Der Stahl schimmerte im Sonnenlicht und flog auf das Gesicht des Auswanderers zu. Jacobs Linke umklammerte das Handgelenk des Nez Perce mit eisernem Griff und fing die Spitze der Klinge nur zwei Fingerbreit vor seinem Gesicht ab.
Der muskulöse Indianer ließ nicht nach. Er versuchte mit aller Kraft, den Stoß zu Ende zu führen. Nur noch die Breite eines Fingers trennte die Messerspitze von Jacobs Wange. Die rechte Faust des Weißen schoß in das Gesicht des roten Kriegers.
Der Getroffene stieß ein dumpfes Stöhnen aus. Der Druck seiner Muskeln auf Jacob ließ nach, und der Nez Perce kippte zur Seite, von Jacob herunter.
Jacob sprang auf und versetzte dem Krieger einen zweiten Fausthieb gegen das Kinn, ehe dieser wieder ganz auf die Beine kommen konnte.
Der Nez Perce taumelte zurück und stolperte am Rand der Felsnadel über einen niedrigen Stein. Er stürzte und verlor sein Messer, das in die Tiefe segelte.
Jacob setzte nach, packte den Horngriff des Bowiemessers und zog es aus der Lederscheide an seiner Hüfte.
Der Indianer kauerte vor ihm und sah zu ihm auf, in Erwartung des tödlichen Stoßes.
Aber der Auswanderer hatte nicht vor, den Gegner zu töten. Er sah keinen Sinn darin. Und er mochte es nicht, Gott zu spielen und Menschenleben auszulöschen.
Es mußte einen Grund für das feindselige Verhalten der als friedfertig bekannten Nez Perce geben. Diesen Grund wollte er herausfinden.
Vielleicht war alles nur ein Mißverständnis. Vielleicht konnte der mörderische Kampf, der um den bewaldeten Hügel tobte, friedlich beigelegt werden.
Das hoffte Jacob. Und dazu brauchte er die Hilfe des Nez Perce - die Hilfe eines Lebenden.
Deshalb steckte er das Bowiemesser zurück in die Scheide und hob beide Hände so, daß die Flächen nach vorn zeigten. Der Indianer sollte sehen, daß er keine Waffe in ihnen verbarg.
Ungläubig blickte ihn der Nez Perce an. Zum erstenmal las Jacob in seinem Gesicht etwas anderes als Haß und Blutdurst. Aber es war noch lange kein Vertrauen, eher Verwunderung.
»Laß uns aufhören zu kämpfen«, sagte der Deutsche auf englisch in der Hoffnung, der Indianer möge ihn verstehen. »Vernünftige Männer sollten miteinander reden, bevor sie gegeneinander kämpfen. Am vernünftigsten sind die, die gar nicht kämpfen.«
Die Verwunderung in dem dunklen Gesicht wuchs.
War der Nez Perce verwirrt, weil er die Sprache der Weißen nicht verstand? Oder verstand er sie und war über den Inhalt von Jacobs Rede verwundert?
Jacob würde es nie erfahren. Aus der Verwunderung wurde plötzlich Erschrecken. Etwas pfiff dicht an dem jungen Deutschen vorbei, und er hörte hinter sich eine ohrenbetäubende Detonation.
Dem Indianer wurde der halbe Kopf weggerissen. Er fiel nach hinten, verlor den Halt und stürzte in die tödliche Tiefe -falls ihn nicht schon die Kugel getötet hatte.
Als Jacob sich umdrehte, sah er, daß aus beiden Läufen von Owens Clabrough kräuselnder Rauch aufstieg.
»Sie haben noch mal Glück gehabt, Dutch«, knurrte der bärtige Mann und machte sich ans Nachladen. »Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte die Rothaut Sie im nächsten Augenblick angesprungen. Man darf nicht zögern, diese Teufel umzulegen. Sie lassen einem keine zweite Chance.«
»Ich wollte ihn nicht umlegen«, sagte Jacob leise, immer noch fassungslos über das, was sich gerade ereignet hatte. »Ich wollte mit ihm reden.«
»Reden? Mit einer Rothaut?« Owen legte den Kopf schief, seine dunklen Augen blickten verständnislos. »Wozu?«
»Ich möchte wissen, weshalb die Nez Perce Sie und Ihre Freunde überfallen haben.«
»Die brauchen keinen besonderen Grund. Sie sind blutdürstige Teufel, die sich gern mit den Skalps ihrer Feinde schmücken. Mögen sie sich auch jahrelang friedlich verhalten und vor unseren Missionaren die lammfrommen Gotteskinder spielen - diese Wilden können ihre wahre Natur nicht verleugnen.«
Owen legte sich am Rand der Felsnadel flach auf den Boden und begann mit dem Beschuß der Indianer.