Auch Irene tat es gut, den kleinen warmen Leib zu spüren. Er spendete ihr Trost und Hoffnung. Hoffnung, daß sie eines Tages Jamies Vater wiederfinden würde.
Von Carl Dilger wanderte ihre Gedanken zu Jacob Adler. Dem Mann, der im letzten Jahr ihr ständiger Begleiter gewesen war, seitdem er sich auf dem Auswandererschiff schützend vor die unverheiratete werdende Mutter gestellt hatte. Für den sie ebenso viel empfand wie für Carl - und doch durfte es nicht sein!
Sie machte sich Sorgen um Jacob und horchte nach den Schüssen aus der Ferne. Es waren weniger geworden. Eine Partei schien die Oberhand zu gewinnen.
Die Weißen oder die Nez Perce?
*
»Ihr Plan hat hingehauen, Dutch!« jubelte Ebenezer Owen. »Wir haben die roten Hunde ganz hübsch gescheucht. Sie wußten gar nicht, wie ihnen geschah, als sie so plötzlich zwischen zwei Feuer gerieten. Keiner von ihnen scheint mehr kampffähig zu sein.«
Der bärtige Mann hatte recht. Das Knattern der Schüsse war verstummt.
Von hier oben waren nur noch die Körper der toten oder verwundeten Krieger zu sehen, etwa ein Dutzend.
Jacob hatte sich bemüht, die Nez Perce nicht tödlich zu treffen. Owen und die Verteidiger der Wagen hatten sich nicht solche Mühe gemacht.
Falls es noch kampffähige Nez Perce gab, hielten sie sich versteckt, oder sie waren geflohen.
»Klettern wir nach unten«, schlug der Deutsche vor. »Hier oben können wir nichts mehr tun. Außerdem möchte ich bald zu unserem Wagen zurück. Mir ist nicht wohl dabei, Irene und Ihre Frau allein gelassen zu haben.«
Auf dem Weg nach unten hörten sie plötzlich wieder Schüsse, ganz in der Nähe.
»Verflucht«, knurrte Owen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Jedenfalls nichts Gutes«, antwortete Jacob ahnungsvoll und kletterte schneller.
Als er unten ankam, waren die Schüsse wieder verklungen. Er wartete nicht auf Owen, sondern lief in Richtung des Hügels. Den geladenen Karabiner hielt er schußbereit in Händen.
Er stieß auf mehrere Weiße, die einen am Boden liegenden Indianer umstanden. Jacob hatte diesem Nez Perce von der Felsnadel aus ins Bein geschossen.
Einer der Weißen, ein kleiner schmaler Mann, kniete neben dem Nez Perce, hielt dessen langes Haar mit der Linken gepackt und setzte gerade das Green-River-Messer in der Rechten an, um sein Opfer zu skalpieren.
»Aufhören!« befahl Jacob. Er stand etwa zehn Yards entfernt und bracht den Sharps in Anschlag.
Der Mann mit dem Messer blickte auf. Verwunderung und Ärger standen in sein zerknittertes Gesicht geschrieben.
»Sie sind doch ein Weißer!« zischte er. »Was kümmert Sie eine dreckige Rothaut?«
»Der Mann ist ein Mensch«, erwiderte Jacob hart. »Und er hat das Recht, wie ein Mensch behandelt zu werden. Man sollte niemandem den Skalp nehmen, schon gar nicht einem Lebenden!«
»Wenn es Sie beruhigt, die Rothaut ist so tot wie die Felsen, von denen Sie gekommen sind.«
Fred Myers - er war der kleine Mann mit dem Messer -rollte den Indianer herum. Jacob sah das rote Loch in dessen Brust.
»Aber. aber ich habe ihm nur ins Bein geschossen!«
»Yeah.« Myers spuckte auf die Leiche. »Eine ganze Reihe der Roten waren nur verwundet. Wir haben sie von ihren Leiden erlöst - und uns von ihrer Anwesenheit.«
Jacob dachte an die Schüsse, die er eben gehört hatte. Bei dem Gedanken an das, was die Männer getan hatte, überfiel ihn ein Schwindelgefühl.
»Das. das war Mord!« schrie er.
»Nein, es war Selbstverteidigung!« widersprach der kleine Mann.
»Selbstverteidigung?« wiederholte Jacob ungläubig. Ihm wurde fast schlecht, als er an die Tat der weißen Männer dachte. »Seit wann ist es Selbstverteidigung, auf Verwundete zu schießen?«
»Es ist immer Selbstverteidigung, wenn man auf wilde Rothäute schießt!« knurrte Myers. »Wir hätten die Verwundeten kaum mitschleppen können. Hätten wir sie aber zurückgelassen, wären sie wieder über uns hergefallen, sobald sie sich erholt hätten. Und dann wäre es ihnen vielleicht gelungen, uns alle zu töten. Wie sie meinen Bruder Bill getötet haben - und meinen Sohn Robert.«
»Ich verstehe Ihren Schmerz, Mister, aber ich kann trotzdem nicht billigen, was Sie getan haben«, blieb Jacob unnachgiebig. »Ihre Tat ist durch nichts zu entschuldigen.«
»Halt die Schnauze, Mann! Und laß die Knarre fallen! Wenn du nicht gehorchst, blase ich dein Lebenslicht aus!«
Die laute Stimme, die Jacob ins Wort fiel, kam von der Seite. Ihr harter Klang ließ keinen Zweifel daran, daß die Drohung ernstgemeint war.
Aus dem Augenwinkeln bemerkte Jacob einen vierschrötigen Mann mit einer roten Narbe, die sich quer über das Gesicht zog. Der Karabiner des Mannes war auf den Auswanderer gerichtet.
Jacob ließ den Sharps fallen.
Sofort rannte der Mann mit der Narbe auf ihn zu und zog den Lauf seiner Waffe über Jacobs Schädel.
Ein brennender Schmerz in seinem Kopf löschte für Sekunden alle Gedanken aus. Jacob fand sich im feuchten Gras wieder. Die dunkle Mündung des fremden Karabiners zeigte unheilverkündend auf seinen Kopf.
»So gefällst du mir schon besser, Indianerfreund«, knurrte das Narbengesicht alias John Bradden. »Am liebsten würde ich dich ohne Umschweife zu deinen roten Freunden in die Ewigen Jagdgründe schicken!«
Ebenezer Owen kam vom Felsmassiv herangelaufen und rief: »John, was soll das? Der Dutch ist ein Freund. Er hat mir geholfen, die Nez Perce zu erledigen.«
»Der?« Bradden sah verächtlich auf Jacob herab. »Der Kerl scheint mehr für tote Indianer übrig zu haben als für lebende Menschen seiner eigenen Hautfarbe.«
»Vielleicht ist er ein wenig zartbesaitet«, keuchte Owen, der die anderen endlich erreicht hatte. »Aber er ist ein verdammt guter Schütze. Wir können seinen Sharps gut gebrauchen, wenn sich noch mehr Nez Perce in der Gegend zeigen sollten.«
»Yeah«, stimmte Bradden nach kurzem Nachdenken zu und hob den Karabinerlauf. »Da hast du recht, Ebenezer. - All right, Dutch, steh auf!«
Jacob erhob sich, nahm seinen Sharps auf und setzte den Filzhut mit der verbogenen Krempe wieder auf seinen Kopf. Dabei zog ein stechender Schmerz vom Hinterkopf den Nacken hinunter.
Bradden zog die Lippen über die gelblichen Zähne, was wohl eine Art entschuldigendes Lächeln darstellen sollte. »Nimm es mir nicht krumm, Dutch. Wir sind alle etwas gereizt.« Er streckte die Hand aus. Jacob ergriff sie zögernd. Hinterher bereute er es.
»Was ist mit Carol?« fragte Fred Myers besorgt nach seiner Schwester.
»Sie ist mit der Freundin von Mr. Adler bei seinem Wagen«, erklärte Owen. »Wir müssen nach ihnen sehen. - Ich habe Bill unten am Creek gefunden, skalpiert. Hat es sonst noch jemanden erwischt?«
»Ja«, antwortete Fred Myers düster. »Rob ist tot.«
»Der kleine Rob?« fragte Owen ungläubig.
Der Vater des Toten nickte nur.
»Diese vermaledeiten roten Teufel!« fluchte Bradden. »Aber wir haben es ihnen gezeigt.«
Jacob sah Owen an und sagte: »Wir müssen nach den Frauen sehen, schnell!«
»Der Dutch hat recht«, brummte der bärtige Mann und blickte seinen Schwager an. »Holt meinen Wagen aus dem Creek, Fred. Die Ochsen frieren sich in dem kalten Wasser noch die Hufe ab. Aber stolpert nicht über den toten Nez Perce im Wasser. Ich habe ihn umgelegt, als er Carol und mich angriff.«
»Gut gemacht«, knurrte Fred Myers. »Es können gar nicht genug Rote sterben, damit Rob und Bill gerächt werden!«
*
»Schlagen Sie endlich zu, Irene!« forderte Carol Owen, die wieder vor dem Planwagen kniete. In derselben Stellung wie vor dem Angriff des Nez Perce, die rechte Hand um eine Radspeiche gekrallt.
Irene holte mit dem Hammer aus und versuchte, sich ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren. Es wollte ihr nicht recht gelingen. Immer wieder dachte sie an Jacob und an die Schüsse in der Ferne, die nach einem erneuten Aufflackern ganz verstummt waren.