Alberto Vázquez-Figueroa
Tuareg
Über das Buch
Gacel Sayah, ein Krieger vom einst mächtigen Nomadenstamm der Tuareg, zählt zu den letzten freien Jägern, die wie ihre Vorfahren die Sahara durchstreifen. Mit seiner Familie lebt er fernab jeder Zivilisation, nur den überlieferten Werten und den alten Gesetzen seines Volkes verpflichtet. Von den blutigen Auseinandersetzungen zwischen den im Norden lebenden Arabern und den französischen Kolonialherren erfährt er nur durch Berichte von Reisenden.
Eines Tages schleppen sich zwei erschöpfte Unbekannte in Gacels Zeltlager, und er gewährt ihnen Unterkunft und Pflege. Kurz darauf tauchen Soldaten auf, die ohne erkennbaren Grund den einen der Männer töten und den anderen mit sich nehmen. Für Gacel, der tatenlos mitansehen muß, wie die Gastfreundschaft mit Füßen getreten wird, ist es oberstes Gebot, diesen frevelhaften Übergriff zu rächen.
Er verläßt seine Familie und macht sich auf die Suche nach dem gefangengenommenen Gast, für den er nach den Tuareg-Gesetzen immer noch die Verantwortung trägt. Aber diese Suche wird für Gacel zu einem gefährlichen, ja tragisch endenden Abenteuer…
Über den Autor
Alberto Vázquez-Figueroa, 1936 in Santa Cruz de Tenerife geboren, verbrachte einen großen Teil seiner Kinder- und Jugendjahre in Marokko. Nach seinem Studium in Madrid arbeitete er als Ausländskorrespondent in Afrika und Südamerika.
Vázquez-Figueroa, der neben seinen journalistischen Arbeiten bereits mehrere Romane und Sachbücher veröffentlicht hat, lebt heute in Spanien.
TUAREG
Für meinen Vater
1. Kapitel
Allah ist groß. Er sei gepriesen!
Vor vielen Jahren, als ich jung war und meine Beine mich tagelang über Sand und Gestein hinweg zu tragen vermochten, ohne Müdigkeit zu verspüren, erfuhr ich irgendwann, mein jüngerer Bruder sei krank geworden. Obwohl drei Tagesmärsche seine khaima[1] von meiner trennten, war die Liebe stärker als die Trägheit. Ohne Furcht machte ich mich auf den Weg, denn wie gesagt: ich war jung und stark, und ich ließ mich durch nichts entmutigen.
Am zweiten Tag erreichte ich in der Abenddämmerung ein Gebiet mit sehr hohen Dünen, eine halbe Tagesreise vom Grab des Heiligen Omar Ibrahim entfernt. Ich erkletterte eine der Dünen mit der Absicht, nach menschlichen Behausungen Ausschau zu halten und dort um Gastfreundschaft zu bitten. Da ich jedoch nichts entdeckte, beschloß ich, die Nacht im Windschatten der Düne zu verbringen.
Der Mond hätte schon hoch am Himmel stehen müssen — hätte es Allah nicht gefallen, ihn in jener Nacht zu verbergen — , als ich von einem so unmenschlichen Schrei geweckt wurde, daß ich fast den Verstand verlor und mich, von panischer Angst gepackt, zusammenkauerte. So verharrte ich, und der gräßliche Schrei ertönte ein zweites Mal, gefolgt von so zahlreichen Klagelauten, daß ich unwillkürlich an die Seele eines Verdammten denken mußte, die mit ihrem Geheul die Erde zu durchdringen vermochte. Plötzlich hörte ich, wie jemand im Sand scharrte, und dann verstummte das Geräusch, um gleich darauf an anderer Stelle erneut hörbar zu werden. Dies wiederholte sich an fünf oder sechs Orten, und die ganze Zeit nahm das herzzerreißende Klagen kein Ende. Vor Angst hätte ich mich am liebsten verkrochen, und ich zitterte am ganzen Körper.
Doch das war noch nicht alles, was ich zu erdulden hatte, denn unversehens vernahm ich ein mühseliges Keuchen — und dann warf mir jemand eine Handvoll Sand nach der anderen ins Gesicht. Meine Vorfahren mögen mir verzeihen, aber ich gestehe, daß ich, von wahnwitziger Furcht gepackt, aufsprang und davonrannte, als wäre mir der leibhaftige saitan, der gesteinigte Unhold, auf den Fersen. Meine Schritte verlangsamten sich erst, als die Sonne mir den Weg erhellte und die großen Dünen hinter mir am Horizont verschwunden waren.
Bald darauf gelangte ich zur khaima meines Bruders, dessen Zustand sich nach dem Willen Allahs so sehr gebessert hatte, daß er sich meine Schilderung der Schreckensnacht anhören konnte. Als ich die Geschichte genauso erzählt hatte, wie ich sie euch gerade erzählt habe, lieferte mir ein Nachbar die Erklärung für jenen Vorfall, indem er an mich weitergab, was er einst von seinem Vater erfahren hatte.
Und dies waren seine Worte:
Allah ist groß. Er sei gepriesen!
Vor vielen Jahren gab es zwei mächtige Familien, die Zayed und die Atman. Sie haßten sich, und sie hatten schon soviel Blut vergossen, daß sie damit für alle Zeiten ihr Vieh hätten rot färben können. Das bislang letzte Opfer war ein junger Atman gewesen, und deshalb sann seine Familie auf Rache.
Eines Tages geschah es, daß die Zayed in den Dünen, wo du geschlafen hast, unweit des Grabes des Heiligen Omar Ibrahim, ihre khaima aufschlugen. Alle Männer waren umgekommen, und so lebte in dem Zelt nur noch eine Mutter mit ihrem Sohn. Die beiden wähnten sich in Sicherheit, denn sogar bei Familien, die sich sehr haßten, galt es als unwürdig, sich an einer Frau und an einem Kind zu vergreifen.
Eines Nachts erschienen jedoch die Feinde. Sie fesselten die arme Mutter, die stöhnte und weinte. Ihren kleinen Sohn nahmen sie mit, denn sie hatten vor, ihn lebendig in einer der Dünen zu begraben.
Die Fesseln waren stark, aber bekanntlich gibt es nichts Stärkeres als die Liebe einer Mutter. Es gelang der Frau, sich zu befreien, doch als sie ins Freie trat, hatten sich schon alle davongemacht. Sie erblickte lediglich eine Unzahl hoher Dünen, und sie lief von einer zur anderen, scharrte im Sand und rief nach ihrem Sohn, wissend, daß er innerhalb kürzester Zeit ersticken würde und daß sie die einzige war, die ihn retten konnte.
Als der Morgen graute, suchte sie noch immer. Sie suchte auch noch am nächsten Tag und am übernächsten, denn Allah hatte ihr in seiner Milde die Wohltat des Wahnsinns erwiesen, damit sie weniger litte und nicht verstünde, wieviel Bosheit in den Menschen wohnt.
Die unglückliche Frau wurde nie wieder gesehen, aber es heißt, daß sich ihr Geist nachts in den Dünen unweit des Grabes des Heiligen Ibrahim herumtreibt, jammernd und unablässig suchend. So scheint es tatsächlich zu sein, denn du selbst hast dort ahnungslos geschlafen und bist ihr begegnet.«
»Gelobt sei Allah, der Barmherzige, der dir gestattet hat, wohlbehalten zu entkommen, deine Reise fortzusetzen und hier in unserem Kreise am Feuer zu sitzen.«
»Er sei gelobt!«
Der Alte seufzte laut und vernehmlich. Dann wandte er sich an die jüngeren seiner Zuhörer, die die alte Geschichte heute zum ersten Mal vernommen hatten, und sagte:
»Ihr seht also, daß Haß und Streit zwischen Familien zu nichts führen, es sei denn zu Angst, Wahnsinn und Tod. Glaubt mir, in den vielen Jahren, die ich an der Seite der Meinigen im Kampf gegen die Ibn-Aziz, unsere Erzfeinde aus dem Norden, verbraucht habe, vermochte ich darin nie etwas Gutes zu sehen, das als Rechtfertigung hätte dienen können, denn die Räubereien der einen werden mit den Raubzügen der anderen bezahlt und die Toten auf beiden Seiten haben keinen Preis, sondern sie führen nur dazu, daß es noch mehr Tote gibt, bis es in den khaimas an starken Armen mangelt und die Söhne ohne die Stimme des Vaters aufwachsen.«
Minutenlang schwiegen alle, denn sie mußten über die Lehren nachdenken, die die Geschichte des alten Suilem enthielt. Sie sofort zu vergessen, wäre ungehörig gewesen, denn dann hätte ein so geachteter Mann vergeblich Stunden seines Schlafes geopfert und um seiner Zuhörer willen seine Kräfte verausgabt.
Schließlich gab Gacel, der jene alte Geschichte schon viele Dutzend Male gehört hatte, mit einer Handbewegung das Zeichen, daß es nun Zeit war, sich zur Ruhe zu begeben. Dann ging er allein fort, wie er es jeden Abend tat, um zu prüfen, ob das Vieh zusammengetrieben worden war, ob die Sklaven seine Befehle ausgeführt hatten, ob seine Familie friedlich schlief und ob in seinem kleinen »Reich« Ordnung herrschte. Dieses Reich bestand aus vier Kamelhaarzelten, einem halben Dutzend seribas aus miteinander verflochtenem Schilfrohr, einem Brunnen, neun Palmen und ein paar Ziegen und Kamelen. Danach erkletterte er ohne Hast — auch dies tat er jeden Abend — die hohe, feste Düne, die sein Lager gegen die Ostwinde schützte. Im Mondschein betrachtete er von dort oben den Rest seines Reiches: die sich endlos erstreckende Wüste, ungezählte Tagesmärsche durch Sand, über Gestein, Berge und Geröllhalden hinweg. Hier herrschte er, Gacel Sayah, mit absoluter Macht, denn er war der einzige amahar[2], der sich in dieser Gegend niedergelassen hatte — und außerdem gehörte ihm der einzige Brunnen weit und breit.