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Als Stadtmenschen hatten sie keinen Sinn für die Zeit, den Raum, die Gerüche und die Farben der Wüste. Genausowenig begriffen sie den Unterschied zwischen einem Krieger aus dem »Volk des Schleiers« und einem amahar vom »Volk des Schwertes«, oder den Unterschied zwischen einem amahar und einem Sklaven, oder den Unterschied zwischen einer echten, freien und starken targia[18] und einer armen beduinischen Haremsklavin.

Gacel hätte zu dem Hauptmann gehen und sich mit ihm eine halbe Stunde lang über die Nacht, die Sterne, den Wind und die Tiere der Wüste unterhalten können, ohne daß der Mann in ihm den »verfluchten, stinkenden Bettler« wiedererkannt hätte, der vor fünf Tagen versucht hatte, sich ihm zu widersetzen. Viele Jahre lang hatten die Franzosen vergeblich versucht, die Tuareg zum Ablegen des Gesichtsschleiers zu bewegen. Am Ende hatten sie sich eingestehen müssen, daß sie gescheitert waren und daß es ihnen nie gelingen würde, einen Targi vom anderen allein aufgrund der Stimme und der Gesten zu unterscheiden.

Weder Malik noch der Hauptmann oder all die zum Sandschaufeln verurteilten Soldaten waren Franzosen, aber eines hatten sie gemeinsam: Sie kannten die Wüste nicht und verachteten ihre Bewohner.

Als der Hauptmann seine Zigarette zu Ende geraucht hatte, ließ er den Stummel in den Sand fallen, grüßte lustlos den Wachtposten und schloß die Tür. Geräuschvoll schob er den schweren Riegel vor. Im Lager gingen nach und nach die Lichter aus.

Bald lag die Oase in tiefem Schweigen da. Nur das Rauschen der Palmwedel in der leichten Brise war zu vernehmen; dann und wann heulte in der Ferne ein hungriger Schakal. Gacel wickelte sich in seine Decke, legte den Kopf auf den Sattel und warf einen letzten Blick auf die Baracken und die unter einem roh zusammengezimmerten Sonnendach aufgereihten Militärfahrzeuge. Wenig später war er eingeschlafen.

Im Morgengrauen erkletterte er die fruchtbarste der Palmen und warf von oben büschelweise reife Datteln hinab. Er verstaute sie in einem Sack, füllte seine gerbas[19] mit Wasser und sattelte sein Mehari, das geräuschvoll protestierte, denn gern wäre es noch länger am schattigen Brunnen geblieben.

Die Soldaten kamen aus den Baracken, gingen in die Dünen, um zu pinkeln, oder wuschen sich im Wassertrog neben dem größten der Brunnen das Gesicht. Auch Sergeant Malik-el-Haideri trat aus seiner Behausung. Mit raschen, zielstrebigen Schritten ging er auf Gacel zu.

»Du reitest fort?« erkundigte er sich, obwohl diese Frage in jeder Hinsicht überflüssig war. »Ich dachte, du wolltest dich hier ein paar Tage ausruhen.«

»Ich bin nicht müde.«

»Das sehe ich — und ich spüre es auch. Es tut manchmal gut, mit einem Fremden zu reden. Dieser Abschaum hier denkt nur ans Klauen und an Weiber.«

Gacel antwortete nicht. Er war vollauf damit beschäftigt, alle Bündel so festzuzurren, daß er sie beim schaukelnden Gang des Kamels nicht schon nach fünfhundert Metern verlor. Malik stellte sich auf die andere Seite des Tieres und legte mit Hand an. »Vorausgesetzt, der Hauptmann gibt mir Urlaub — würdest du mich dann mitnehmen auf die Suche nach der Großen Karawane?«

Der Targi machte eine abwehrende Geste. »Nein, das Land der Leere ist nichts für dich. Nur Männer wie wir, die imohar, können uns hineinwagen.«

»Aber ich würde drei Kamele beisteuern! Wir könnten mehr Wasser und Proviant mitnehmen. Wenn wir die Karawane finden, reicht es für uns beide. Ich würde dem Hauptmann einen Teil abgeben, außerdem könnte ich mir meine Versetzung erkaufen, und es würde trotzdem noch genügend übrigbleiben für den Rest meines Lebens. Nimm mich mit!«

»Nein.«

Sergeant Malik resignierte scheinbar. Sein Blick schweifte langsam über die Palmen, die Baracken und schließlich über die Sanddünen, die den Militärstützpunkt in alle vier Himmelsrichtungen umschlossen. Ständig drohten sie, die Oase endgültig unter sich zu begraben. Sie machten aus der Garnison ein Gefängnis, das keine Gitter brauchte.

»Noch elf Jahre!« sagte Malik leise vor sich hin. »Falls ich hier jemals rauskomme, werde ich ein alter Mann sein, aber man hat mir sogar meine Pensionsberechtigung abgesprochen. Was soll dann aus mir werden?« Zu Gacel gewandt fuhr er fort: »Wäre es nicht besser, tapfer zu sein und notfalls in der Wüste zu sterben, wenn man dafür die Chance erhält, daß sich alles schlagartig ändert?«

»Vielleicht.«

»Das ist doch genau das, was du vorhast, nicht wahr? Du setzt lieber alles auf eine Karte, statt dein Leben lang Ziegelsteine zu schleppen.«

»Ich bin ein Targi, aber du…«

»Ach, geh zum Teufel mit deinem Stolz!« rief Malik wütend. »Glaubst du etwa, du bist etwas Besseres, nur weil du von klein auf daran gewöhnt bist, die Hitze und den Durst auszuhalten? Ich habe mich die ganze Zeit mit diesen Schweinehunden da drüben herumschlagen müssen, und ich weiß nicht, was schlimmer ist, das schwöre ich dir! Na mach schon, hau ab! Wenn ich mich eines Tages auf die Suche nach der Großen Karawane mache, dann ganz allein. Ich brauche dich nicht dazu!«

Hinter dem Schleier verzogen sich Gacels Lippen zu einem Lächeln, aber das konnte der andere nicht sehen. Er befahl seinem Kamel aufzustehen, ergriff die Zügel und ritt langsam in südlicher Richtung davon.

Sergeant Malik-el-Haideri folgte Gacel mit den Blicken, bis der Targi im Labyrinth der Dünentäler verschwunden war. Denn drehte er sich um und kehrte nachdenklich zur größten der Baracken zurück.

9. Kapitel

Hauptmann Kaleb-el-Fasi schlief immer so lange, bis das Dach seiner Hütte in der Sonne glühend heiß wurde, und das geschah Tag für Tag gegen neun Uhr morgens, obwohl Kaleb-el-Fasi seine Behausung an der geschütztesten Stelle der Oase hatte bauen lassen, im Schatten der Palmen. Nicht selten fuhr er nachts erschrocken aus dem Schlaf hoch, wenn Datteln auf das Blechdach prasselten.

Seine morgendlichen Gebete pflegte der Hauptmann zwei Schritte vor der Tür seiner Hütte zu verrichten. Dann setzte er sich in den Trog neben dem großen Brunnen, wusch sich mit lautem Planschen und ließ sich gleich an Ort und Stelle von Sergeant Malik über alle Vorfälle Bericht erstatten. Meist gab es jedoch so gut wie nichts zu melden.

An diesem Morgen allerdings schien Kaleb-el-Fasis Untergebener etwas auf dem Herzen zu haben. Er war von einem Eifer beseelt, den man bei ihm nicht gewohnt war. »Dieser Targi — der will nach der Großen Karawane suchen«, sagte er.

»Na und?«

»Ich hab ihn gefragt, ob er mich mitnehmen will, aber er hat nein gesagt.«

»Er ist eben nicht so dumm, wie du glaubst! Aber seit wann interessierst du dich für die Große Karawane?«

»Seit ich zum ersten Mal von ihr gehört habe. Angeblich war sie mit Waren im Wert von zehn Millionen Francs unterwegs. Heutzutage wären das viele Elfenbein und all die Edelsteine das Dreifache wert.«

»Davon haben schon viele geträumt, und viele haben dafür mit dem Leben bezahlt.«

»Lauter Abenteurer, die ihre Expedition nicht gewissenhaft vorbereitet haben, mit gesichertem Nachschub und geeigneter Ausrüstung.«

Hauptmann Kaleb-el-Fasi warf dem Sergeanten Malik einen langen Blick zu, in den er besonders viel Tadel und Strenge zu legen versuchte. »Willst du damit sagen, ich soll Männer und Material der Streitkräfte für die Suche nach dieser Karawane bereitstellen?« fragte er mit vorgetäuschter Entrüstung.

»Warum nicht?« war die unverblümte Antwort. »Die ganze Zeit befiehlt man uns, sinnlose Expeditionen durchzuführen, um nach neuen Brunnen zu suchen oder um nachzuzählen, ob noch alle Nomaden da sind. Einmal haben uns ein paar Ingenieure sechs Monate lang durch die Gegend gescheucht, weil sie glaubten, es gebe hier irgendwo Erdöl.«

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18

targi, targia — Tuareg-Mann, Tuareg-Frau

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19

gerba — Wassersack aus einem Ziegenbalg