Der Chef der Gendarmerie entnahm seiner Mappe mehrere Blätter, die eng mit gleichmäßiger Kopistenhandschrift beschrieben waren, und begann vorzulesen.
»Lieber Lawrenti, die Ereignisse in unserm von Allah behüteten Stambul entwickeln sich so rasend schnell, daß selbst ich nicht hinterherkomme, dabei hat Dein gehorsamer Diener, ohne falsche Bescheidenheit, die Hand schon mehr als ein Jahr am Puls des Kranken Mannes vom Bosporus. Dieser Puls war, nicht ohne mein Zutun, schon am Erlöschen und versprach, in Bälde ganz stehenzubleiben, aber seit dem Mai ...«
»Die Rede ist vom vorigen Jahr, 1876«, hielt es Misinow einzuwerfen für angezeigt.
»... aber seit dem Mai schüttelt den kranken Mann das Fieber dermaßen, daß der Bosporus über seine Ufer tritt und die Mauern von Zargrad (*Alte russische Bezeichnung für Konstantinopel. D.Ü.) einzustürzen drohen, und dann ist nichts mehr da, wo Du Dein Schild aufhängen könntest.
Die Sache ist die, daß im Mai in die Hauptstadt des großen und unvergleichlichen Sultans Abd ul Asis, Schattens des Allmächtigen und Behüters des Glaubens, Midhat Pascha triumphal aus der Verbannung zurückkehrte und seine >graue Eminenz< mitbrachte, den listigen Anwar Effendi.
Diesmal ging der klug gewordene Anwar auf Nummer sicher - er handelte sowohl europäisch wie orientalisch. Der Anfang war europäisch: Seine Agenten kreuzten immer öfter in den Werften, dem Arsenal, dem Münzhof auf - und die Arbeiter, die schon seit langem keinen Lohn bekamen, strömten auf die Straße. Dann folgte ein rein orientalischer Schachzug. Am 25. Mai verkündete Midhat Pascha den Rechtgläubigen, ihm sei im Traum der Prophet erschienen (das prüfe mal einer nach) und habe seinem Sklaven befohlen, die sterbende Türkei zu retten.
Derweil saß mein guter Freund Abd ul Asis wie gewöhnlich in seinem Harem und genoß die Gesellschaft seiner Lieblingsfrau, der schönen Mihri Chanum, die war guter Hoffnung, hatte ihre Launen und verlangte, der Gebieter solle ständig bei ihr sein. Diese goldhaarige, blauäugige Tscherkessin war außer für ihre überirdische Schönheit auch dafür berühmt, daß sie die Kasse des Sultans bis auf den Grund leerte. Allein im letzten Jahr verausgabte sie in den französischen Geschäften von Pera (*Stadtteil von Konstantinopel. D.Ü.) mehr als zehn Millionen Rubel, und so ist verständlich, daß die Konstantinopolitaner sie, wie die zum understatement neigenden Engländer sagen würden, nicht besonders mochten.
Glaube mir, Lawrenti, ich konnte daran nichts ändern. Ich beschwor, drohte, intrigierte wie ein Eunuch im Harem, aber Abd ul Asis war taub und stumm. Am 29. Mai tobte rund um den Palast Dolma Bahce (ein scheußliches Gebäude im europäisch-orientalischen Stil) eine vieltausendköpfige Menschenmenge, aber der Padischah versuchte nicht einmal, seine Untertanen zu beruhigen - er schloß sich in der Frauenhälfte seiner Residenz ein, wo ich keinen Zutritt habe, und lauschte dem Klavierspiel von Mihri Chanum, die ihm Wiener Walzer zu Gehör brachte.
Derweil saß Anwar unentwegt beim Kriegsminister, um den vorsichtigen und vorausschauenden Herrn zu einer Änderung seiner politischen Orientierung zu bewegen. Nach einem Bericht meines Agenten, der dem Minister als Koch diente (daher die spezifische Färbung des Berichts), verliefen die schicksalträchtigen Verhandlungen folgendermaßen. Anwar kam genau zur Mittagsstunde zum Minister, und es wurde befohlen, Kaffee mit Tschureks aufzutragen. Eine Viertelstunde später scholl aus dem Kabinett des Ministers das empörte Gebrüll seiner Exzellenz, und die Adjutanten führten Anwar auf die Hauptwache. Dann wanderte der Minister eine halbe Stunde lang einsam durchs Zimmer und verzehrte zwei Teller Halwa, das er sehr gern aß. Danach wollte er den Verräter persönlich einvernehmen und begab sich auf die Hauptwache. Um halb drei erging Befehl, Obst und Süßigkeiten zu servieren. Um dreiviertel vier wurden Kognak und Champagner verlangt. In der fünften Stunde, nach dem Kaffeetrinken, fuhren der Minister und Anwar zu Midhat. Wie man hört, wurden dem Minister für seine Teilnahme an der Verschwörung der Posten des Großwesirs und eine Million Pfund von den englischen Gönnern versprochen.
Gegen Abend waren sich die beiden Hauptverschwörer vollkommen einig, und schon in derselben Nacht kam es zu dem Staatsstreich. Die Flotte blockierte den Palast von der See her, der Chef der hauptstädtischen Garnison besetzte die Wachen mit seinen Leuten, und der Sultan wurde mitsamt seiner Mutter und der schwangeren Mihri Chanum per Boot in den Feriye-Palast überführt.
Vier Tage später stutzte sich der Sultan mit einer Nagelschere den Bart, doch so ungeschickt, daß er sich die Venen beider Handgelenke durchschnitt und sogleich verstarb. Die Ärzte der europäischen Gesandtschaften, hinzugebeten, den Leichnam zu begutachten, erkannten einstimmig auf Selbstmord, da keinerlei Spuren eines Kampfes an dem Körper gefunden wurden. Kurz und gut, alles wurde einfach und elegant durchgespielt wie bei einer guten Schachpartie - so wollte es der Stil von Anwar Effendi.
Aber das war nur die Eröffnung, es folgte das Mittelspiel.
Der Kriegsminister hatte sein Werk getan und wurde nun zu einem ernsthaften Störfaktor, denn für Reformen und für die Verfassung besaß er keinerlei Neigung, er interessierte sich vornehmlich dafür, wann ihm die von Anwar versprochene Million ausgefolgt würde. Überhaupt benahm sich der Kriegsminister so, als wäre er die Hauptperson der Regierung, und wurde nicht müde, daran zu erinnern, daß keineswegs Midhat, sondern er selbst den Sultan Abd ul Asis gestürzt habe.
Eben davon überzeugte Anwar Effendi einen wackeren Offizier, der zuvor dem verblichenen Sultan als Adjutant gedient hatte. Dieser hieß Hassan Bei, war der Bruder der entzückenden Mihri Chanum
und genoß bei den Schönen des Hofes eine unwahrscheinliche Popularität, denn er sah sehr gut aus, war tapfer und sang vorzüglich italienische Arien. Alle nannten ihn einfach den Tscherkessen.
Ein paar Tage, nachdem Abd ul Asis sich so ungeschickt den Bart gestutzt hatte, gebar die untröstliche Mihri Chanum ein totes Kind und verstarb unter schrecklichen Qualen. Just zu dieser Zeit wurden Anwar und der Tscherkesse Busenfreunde. Eines Tages kam Hassan Bei in die Residenz Midhat Paschas, um seinen Freund zu besuchen. Anwar war nicht in seinem Zimmer, doch genau zu diesem Zeitpunkt kamen die Minister zu einer Beratung zusammen. An den Tscherkessen waren sie hier gewöhnt, sahen in ihm einen der Ihren. Er trank Kaffee mit den Adjutanten, rauchte, schwatzte über alles mögliche. Dann schlenderte er durch die Korridore, doch plötzlich stürmte er in den Saal, wo die Sitzung stattfand. Midhat und die übrigen Würdenträger rührte er nicht an, aber dem Kriegsminister schoß er mit seinem Revolver zwei Kugeln in die Brust und gab dem alten Mann mit dem Jatagan den Rest. Diejenigen Minister, die bei klugem Verstand waren, stürzten fluchtartig davon, doch zwei gedachten den Helden zu spielen. Gänzlich sinnlos. Den einen erschoß der rasende Tscherkesse aus nächster Nähe, den anderen verwundete er schwer. Da kehrte der kühne Midhat Pascha mit seinen beiden Adjutanten zurück. Hassan Bei tötete sie beide, doch Midhat rührte er wieder nicht an. Der Mörder wurde schließlich in Fesseln geschlagen, doch zuvor hatte er noch einen Polizeioffizier umgebracht und sieben Soldaten verwundet. Unser Anwar betete derweil fromm in der Moschee, und dafür gab es eine Menge Zeugen.
Die Nacht verbrachte Hassan Bei hinter Schloß und Riegel in einem Wachraum und sang mit lauter Stimme Arien aus >Lucia di Lammermoor<. Wie es heißt, war Anwar Effendi davon so entzückt, daß er versuchte, den heldenmütigen Übeltäter zu begnadigen, aber die erbitterten Minister waren unbeugsam, und der Mörder wurde am Morgen darauf an einem Baum aufgeknüpft. Die Haremsdamen, die ihren Tscherkessen so heiß geliebt hatten, kamen nun, um seiner Hinrichtung beizuwohnen, sie weinten bitterlich und warfen ihm Kußhändchen zu.