Warja erbleichte.
»Aber ich habe ja meinen Bräutigam noch gar nicht gesehen ...«
»Nach dem Krieg werden Sie ihn sehen«, fiel ihr der Chefgendarm ins Wort und wandte sich zur Tür, um seine Gendarmen zu rufen, aber da mischte sich Fandorin ins Gespräch.
»Lawrenti Arkadjewitsch, ich glaube, es wird g-genügen, wenn Sie Frau Suworowa das Ehrenwort abnehmen.«
»Ich gebe mein Ehrenwort!« rief Warja sogleich, ermuntert von dieser überraschenden Fürsprache.
»Entschuldigen Sie, mein Lieber, aber das kann ich nicht riskieren.« Der General würdigte sie keines Blicks. »Da ist auch noch dieser Bräutigam. Und darf man überhaupt einem Mädchen trauen? Sie wissen ja - lange Haare, kurzer Verstand.«
»Ich habe keine langen Haare! Und das mit dem Verstand ist gemein!« Warjas Stimme zitterte verräterisch. »Was gehen mich Ihre Anwars und Midhats an!«
»Auf meine Verantwortung, E-exzellenz. Ich bürge für Warwara Andrejewna.«
Misinow runzelte mißmutig die Stirn und sagte nichts, Warja aber dachte: Es scheint auch Polizeiagenten zu geben, die nicht gänzlich verkommen sind. Dieser ist immerhin serbischer Kriegsfreiwilliger.
»Dumme Situation«, knurrte der General. Er wandte sich Warja zu und fragte feindselig: »Können
Sie wenigstens irgendwas? Haben Sie eine schöne Schrift?«
»Ich habe Stenographie gelernt! Ich habe als Telegraphistin gearbeitet! Und als Hebamme!« log Warja hinzu.
»Stenographin und Telegraphistin?« fragte Misinow verwundert. »Wenn das so ist. Erast Petrowitsch, ich lasse das Fräulein unter einer Bedingung hier: Sie wird Ihre Sekretärin sein. Sie werden ja mal einen Boten oder Melder brauchen, der keinen Verdacht erregt. Aber bedenken Sie - Sie haben für sie gebürgt.«
»Das geht nicht!« riefen Warja und Fandorin im Chor. Und fuhren verschieden fort:
Fandorin: »Ich brauche keine Sekretärin!«
Warja: »Ich arbeite nicht für die Geheimpolizei!«
»Wie Sie wollen«, sagte der General achselzuckend und stand auf. »Nowgorodzew, die Eskorte!« »Ich bin einverstanden!« schrie Warja.
Fandorin schwieg.
VIERTES KAPITEL,
in welchem der Feind den ersten Schlag führt
»Daily Post« (London) vom 15. (3.) Juli 1877
»Die Vorausabteilung des schnell vorrückenden Generals Gurko hat die alte Hauptstadt des bulgarischen Reiches Tirnowo eingenommen und eilt zum Schipkapaß, hinter dem die ungeschützten Ebenen liegen, die sich bis nach Konstantinopel erstrecken. Der Kriegs wesir Redif Pascha und der Oberbefehlshaber Abd ul Kerim Pascha wurden ihrer Posten enthoben und vor Gericht gestellt. Jetzt kann nur noch ein Wunder die Türkei retten.«
Bei der Vortreppe blieben sie stehen. Eine Erklärung war fällig.
Fandorin räusperte sich und sagte: »Ich bedaure sehr, daß es so gekommen ist, Warwara Andrejewna. Sie sind selbstverständlich völlig frei, und ich habe nicht vor, Sie zu irgendeiner Zusammenarbeit zu zwingen.«
»Ich danke Ihnen«, antwortete sie schnippisch. »Das ist sehr großmütig von Ihnen. Offen gestanden, ich dachte schon, Sie hätten das Ganze absichtlich arrangiert. Sie haben mich ja sitzen sehen und konnten sich denken, wie das ausgeht. Was ist, brauchen Sie sehr nötig eine Sekretärin?«
In Fandorins Augen blitzte ein Fünkchen, das man bei einem normalen Menschen für ein Zeichen von Belustigung gehalten hätte.
»Sie sind sch-scharfsinnig. Aber ungerecht. Ich habe in der Tat absichtlich geschwiegen, doch ausschließlich in Ihrem Interesse. Misinow würde Sie ganz ohne Zweifel in Begleitung eines Gendarmen zurückgeschickt haben. Jetzt können Sie völlig legal hierbleiben.«
Darauf wußte Warja nichts zu erwidern, aber einem schäbigen Spion danken mochte sie auch nicht. »Ich sehe, Sie haben wirklich Geschick für Ihren wenig ehrenwerten Beruf«, sagte sie bissig. »Sie haben sogar den obersten Menschenfresser überlistet.«
»Menschenfresser? Sie meinen Misinow?« fragte Fandorin verwundert. »D-das ist er nicht. Und was soll unehrenhaft daran sein, die Interessen des Staates zu schützen?«
Was sollte man mit so einem reden?
Warja wandte sich demonstrativ ab und ließ den Blick über das Lager schweifen: weiße Häuschen, gleichmäßige Zeltreihen, nagelneue Telegraphenmasten. Über die Straße kam ein Soldat gelaufen, der die viel zu langen Arme auf wohlbekannte Weise schwenkte.
»Warja, Warenka!« rief er von weitem, riß die Mütze mit dem langen Schirm vom Kopf und winkte damit. »Du bist gekommen!«
»Petja!« hauchte sie, vergaß Fandorin schlagartig und lief dem Mann entgegen, für den sie anderthalbtausend Werst zurückgelegt hatte.
Sie umarmten und küßten sich ganz natürlich, ohne Verschämtheit, wie noch nie. Warja sah voller Freude Petjas unschönes, aber liebes, glückstrahlendes Gesicht. Er war schmal geworden, braungebrannt, ging gebückter als zuvor. Der schwarze Monturrock mit den roten Achselklappen umschlotterte ihn, doch das Lächeln war das alte - voller Anbetung.
»Du bist also einverstanden?« fragte er.
»Ja«, sagte Warja einfach, obwohl sie nicht sogleich hatte einwilligen wollen, sondern erst nach einem langen und ernsthaften Gespräch, in dem sie ein paar prinzipielle Bedingungen vorgebracht hätte.
Petja lachte und wollte sie wieder umarmen, doch sie war zur Besinnung gekommen.
»Wir müssen alles ausführlich besprechen. Erstens ...«
»Das machen wir, ganz bestimmt. Nur nicht jetzt, heute abend. Wir treffen uns im Zelt der Presseleute, einverstanden? Die haben da eine Art Klub. Du kennst doch den Franzosen d'Hevrais? Ein feiner Kerl. Von ihm weiß ich ja, daß du da bist. Ich habe jetzt furchtbar viel zu tun, bin nur für einen Moment gekommen. Wenn sie mich vermissen, geht's mir an den Kragen. Heute abend, heute abend!«
Er rannte zurück, mit den schweren Stiefeln Staub aufwirbelnd, und drehte sich immer wieder um.
Aber am Abend konnten sie sich nicht sehen. Eine Ordonnanz brachte ihr aus dem Stab einen Zetteclass="underline" »Habe die ganze Nacht Dienst. Morgen. Ich liebe Dich. P.«
Nun ja, Dienst ist Dienst. Warja richtete sich häuslich ein. Die Krankenschwestern hatten sie bei sich aufgenommen, großartige, verständnisvolle Frauen, aber alt, Mitte dreißig, und ein bißchen langweilig. Sie sammelten für Warja das Notwendigste als Ersatz für das Gepäck, das sich der findige Mitko angeeignet hatte - Kleidung, Schuhe, einen Flakon Kölnischwasser (sie hatte herrliches Pariser Parfüm gehabt), Strümpfe, Wäsche, einen Kamm, Haarnadeln, duftende Seife, Puder, Sonnenkrem, Cold Cream, Gesichtsmilch, Kamillenessenz zum Haarewaschen und sonstige nützliche Dinge. Die Kleider waren natürlich scheußlich mit Ausnahme eines einzigen, das war hellblau und hatte einen weißen Spitzenkragen. Warja entfernte die aus der Mode gekommenen Manschetten, und nun sah es ganz nett aus.
Aber am Morgen wurde es ihr langweilig. Die Krankenschwestern waren ins Lazarett gegangen, denn aus der Gegend von Lowetsch waren zwei Verwundete gebracht worden. Warja trank allein Kaffee, dann gab sie ein Telegramm an ihre Eltern auf: erstens, damit die nicht verrückt wurden, und zweitens, damit sie Geld schickten (nur leihweise, die sollten sich ja nicht einbilden, sie, Warja, werde in den Käfig zurückkehren). Sie spazierte durchs Lager, beäugte einen sonderbaren Zug ohne Schienen. Dampfspeiende eiserne Lokomobile mit gewaltigen Rädern schleppten schwere Geschütze und Lastfuhren mit Munition. Das Schauspiel war beeindruckend, ein wahrer Triumph des Fortschritts.
Da sie nichts zu tun hatte, ging sie Fandorin besuchen, der im Stabssektor ein Zelt für sich hatte. Er lag auf seinem Feldbett und schrieb aus einem türkischen Buch irgendwelche Wörter heraus.