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»Sind Sie dabei, die Interessen des Staates zu schützen, Herr Polizist?« fragte sie, denn es schien ihr am besten, in spöttisch-lässigem Ton mit dem Agenten zu sprechen.

Fandorin erhob sich und warf einen Militärrock ohne Achselklappen über. In dem offenen Hemdkragen sah Warja ein silbernes Kettchen. Ein Kreuz? Nein, eher ein Medaillon. Da hätte sie gern hineingeschaut. Der Herr Polizeispitzel neigte doch nicht etwa zur Romantik?

Der Titularrat schloß den Kragen und antwortete ernsthaft: »Wenn man in einem Sch-staat lebt, muß man ihn schützen oder man muß ausreisen, sonst kommt es zu Schmarotzertum und Lakaientratsch.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, parierte Warja, die von dem »Lakaientratsch« unangenehm berührt war. »Einen ungerechten Staat kann man zerstören und statt dessen einen anderen aufbauen.«

»L-leider ist ein Staat kein Haus, sondern eher ein Baum. Den baut man nicht auf, er wächst, dem Naturgesetz folgend, von selbst, und das dauert lange. Dazu braucht es keinen Maurer, sondern einen G-gärtner.«

Warja vergaß den spöttisch-lässigen Ton und rief hitzig: »Wir leben in einer so schweren, komplizierten Zeit! Die ehrlichen Menschen ächzen unter der Last von Stumpfsinn und Willkür, und Sie reden von einem Gärtner wie ein alter Mann!«

Fandorin zuckte die Achseln.

»Liebe Warwara Andrejewna, ich k-kann das Gejammer über >unsere schwere Zeit< nicht mehr hören. Die Zeit unter Zar Nikolaus war viel schwerer als die heutige, und damals sind Ihre >ehrlichen Menschen< in Habtacht-Stellung herumgelaufen und haben ihr glückliches Leben gepriesen. Wenn es jetzt möglich ist, über Stumpfsinn und Willkür zu klagen, hat sich die Z-zeit doch sehr gebessert.«

»Sie sind ja ... Sie sind einfach ein Throndiener!« zischte Warja, es war die schlimmste Beleidigung, die sie zu vergeben hatte, und als Fandorin nicht mal zuckte, erklärte sie es in für ihn verständlicher Sprache: »Ein treu ergebener Sklave ohne Verstand und Gewissen!«

Sie schoß es heraus - und erschrak über ihre Grobheitheit, aber Fandorin war kein bißchen verärgert, er holte tief Luft und sagte: »Sie wissen nicht, wie Sie sich zu mir v-verhalten sollen, erstens. Dankbar sein möchten Sie nicht, darum sind Sie böse, zweitens. Vergessen Sie die Dankbarkeit einfach, dann k-kommen wir prima miteinander aus, drittens.«

Diese Herablassung machte Warja noch wütender, zumal der Agent, dieses Fischblut, völlig recht hatte.

Das Zelt, in dem sich die beim Hauptquartier akkreditierten Presseleute zu treffen pflegten, war schon von weitem zu erkennen. Vor dem Eingang hingen an einer langen Schnur Fahnen verschiedener Länder, Wimpel der Zeitungen und Zeitschriften und aus irgendwelchen Gründen rote Hosenträger mit weißen Sternchen.

»Gestern haben sie wohl den Erfolg der Affäre bei Lowetsch gefeiert«, mutmaßte Petja. »Und einer muß so viel gefeiert haben, daß er die Hosenträger verlor.«

Er zog den Vorhang beiseite, und Warja blickte hinein.

Der Klub war schmuddelig, aber gemütlich: Holztische, mit Leinwand bespannte Stühle, eine Theke mit einer Batterie von Flaschen. Es roch nach Tabakrauch, Kerzenwachs und Herrenparfüm. Auf einem einzeln stehenden langen Tisch lagen Stöße von ausländischen Zeitungen. Sie waren ungewöhnlich - aus Morsestreifen zusammengeklebt. Warja sah die »Daily Post« und staunte: die heutige Morgenausgabe. Wahrscheinlich von der Redaktion hertelegraphiert. Toll!

Mit besonderer Genugtuung vermerkte Warja, daß außer ihr nur noch zwei Frauen da waren, beide mit Kneifer und jenseits der ersten Jugendfrische. Dafür gab es viele Männer, darunter auch Bekannte.

Da war vor allem Fandorin, wieder mit Buch. Blöd, so was, lesen konnte er doch in seinem Zelt.

In der gegenüberliegenden Ecke war eine Simultanschachpartie im Gange. Auf der einen Seite des Tischs ging, eine Zigarre schmauchend, herablassend und wohlmeinend MacLaughlin auf und ab, auf der anderen Seite saßen konzentriert Sobolew, d'Hevrais und noch zwei andere.

»Ach, unser kleiner Bulgare!« rief General Sobolew und stand erleichtert vom Brett auf. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen! James, sagen wir Remis.«

D'Hevrais lächelte den Neuankömmlingen freundlich zu und verweilte (was angenehm war) mit dem Blick auf Warja, setzte aber das Spiel fort. Dafür eilte ein etwas dunkelhäutiger Offizier in einer niegesehen prachtvollen Montur zu Sobolew, berührte den übermäßig gewichsten Schnauzbart und rief auf französisch: »General, ich flehe Sie an, stellen Sie mich Ihrer zauberhaften Bekannten vor! Meine Herren, die Kerzen aus! Sie werden nicht mehr gebraucht - die Sonne ist aufgegangen!«

Die beiden betagten Damen blickten äußerst mißbilligend auf Warja, und sie selbst war leicht benommen von diesem Ansturm.

»Das ist Oberst Lucan, der persönliche Vertreter unseres wertvollen Verbündeten, seiner Hoheit Fürst Karl von Rumänien«, sagte Sobolew auflachend. »Ich warne Sie, Warwara Andrejewna, der Oberst wirkt auf Damenherzen tödlicher als der giftige Baum Antschar.«

Seinem Ton entnahm Warja, daß sie den Rumänen nicht zu begrüßen brauchte. Sie nahm Petjas Arm und antwortete steif: »Sehr erfreut. Mein Bräutigam, der Einjährigfreiwillige Pjotr Jablokow «

Lucan ergriff mit zwei Fingern galant Warjas Handgelenk (ein Ring mit einem gewichtigen Brillianten schoß einen Blitz) und wollte einen Handkuß anbringen, erhielt aber eine gehörige Abfuhr: »In Petersburg küßt man fortschrittlichen Frauen nicht die Hand.«

Ansonsten war das Publikum interessant, und es gefiel Warja in dem Presseklub. Ärgerlich war nur, daß d'Hevrais sein dämliches Schachspiel fortsetzte. Aber ein Ende war absehbar - alle übrigen Gegner MacLaughlins hatten kapituliert, und der Franzose lag in den letzten Zügen. Das schien ihn indes nicht zu betrüben, er blickte oft zu Warja herüber, lächelte unbekümmert und pfiff melodisch ein modernes Chanson.

Sobolew blickte auf das Brett, griff zerstreut den Refrain auf »Folichon-folichonner ... Nun ergeben Sie sich, d'Hevrais, das ist ja ein richtiges Waterloo.«

»Die Garde stirbt, doch sie ergibt sich nicht.« Der Franzose zupfte an seinem Spitzbärtchen und machte einen Zug. Der Ire krauste die Stirn und schnaufte.

Warja verließ das Zelt, genoß den Sonnenaufgang und die kühle Luft, und als sie wieder hineinging, war das Schachbrett weggeräumt, und das Gespräch drehte sich um nicht mehr und nicht weniger als die Beziehungen zwischen Mensch und Gott.

»Hier kann es keine wechselseitige Achtung geben«, eiferte MacLaughlin, wohl als Antwort auf eine Bemerkung von d'Hevrais. »Die Beziehungen des Menschen zum Allerhöchsten gründen auf der Anerkenntnis der Ungleichheit. Es kommt doch auch einem Kind nicht in den Sinn, Gleichheit mit den Eltern einzufordern! Widerspruchslos anerkennt es die Überlegenheit seines Vaters, seine Abhängigkeit von ihm, empfindet Ehrfurcht für ihn und gehorcht ihm daher - zu seinem Wohl.«

»Ich erlaube mir, Ihre Metapher aufzugreifen«, sagte der Franzose lächelnd und nahm einen Zug aus seinem Tschibuk. »All das gilt nur für kleine Kinder. Wenn das Kind jedoch heranwächst, zieht es unweigerlich die Autorität des Vaters in Zweifel, obwohl der immer noch unvergleichlich klüger und mächtiger ist. Das ist gesund und natürlich, sonst bliebe der Mensch stets ein Kind. In der gleichen Periode befindet sich derzeit die herangewachsene Menschheit. Später, wenn sie noch erwachsener geworden ist, werden sich zwischen ihr und Gott mit Sicherheit neue Beziehungen herausbilden, gegründet auf Gleichheit und wechselseitiger Achtung. Und irgendwann ist das Kind so sehr erwachsen, daß es den Vater gar nicht mehr braucht.«

»Bravo, d'Hevrais, Sie reden so glatt, wie Sie schreiben«, rief Petja. »Nur leider gibt es keinen Gott,

es gibt Materie und elementare Prinzipien des Anstands. Ich rate Ihnen, aus Ihrer Konzeption ein Feuilleton für die >Revue Parisienne< zu machen - ein ausgezeichnetes Thema.«