»Sie hat den Handschuh ausgezogen?« fragte d'Hevrais mit Kennermiene. »Das ist was Ernstes, meine Herren. Der Prophet hat hübsche Händchen für den verführerischsten Teil des weiblichen Körpers gehalten und den vornehmen Muselmaninnen aufs strengste verboten, ohne Handschuhe zu gehen, um die Männerherzen nicht in Versuchung zu führen. Wenn also eine Muselmanin den Handschuh auszieht, c'est une grande signe (*(franz.) Das ist ein großes Zeichen), so als entblöße eine europäische Frau ... Aber lassen wir die Parallelen«, sagte er mit einem Seitenblick auf Warja.
»Da sehen Sie's«, griff der Husar auf. »Durfte ich die Dame danach durch Nichtbeachtung beleidigen? Ich nehme mein Pferd beim Zaum, verbeuge mich und will mich vorstellen. Da schlägt mir doch der Eunuch, dieser Stinkstiefel, die Peitsche ins Gesicht. Was tun? Ich zieh den Säbel blank und durchbohr den Flegel, dann wisch ich die Klinge an seinem seidenen Kaftan ab und reite traurig nach Hause. Mir stand der Sinn nicht mehr nach schönen Frauen. Ich fühlte, das nimmt kein gutes Ende. Und richtig, es wurde ganz scheußlich.«
»Nämlich?« fragte Lucan neugierig. »War sie die Frau eines Paschas?«
»Schlimmer.« Surow holte tief Luft. »Die Frau des mohammedanischen Herrschers Abd ul Hamid II. Und der Eunuch hatte natürlich auch dem Sultan gehört. Gnatjew verteidigte mich, wie er nur konnte. Er sagte dem Padischah persönlich: >Wenn mein Adjutant den Peitschenhieb des Sklaven hingenommen hätte, würde ich ihm eigenhändig die Schulterklappen abgerissen haben wegen Beleidigung des russischen Offiziersstandes.< Aber was wissen die schon, was eine Offiziersmontur bedeutet? Ausweisung, binnen vierundzwanzig Stunden. Auf ein Frachtboot, und ab nach Odessa. Zum Glück fing bald der Krieg an. Gnatjew sagte mir zum Abschied: >Du kannst Gott danken,
Surow, daß es nicht die Hauptfrau war, sondern nur die kleine Herrin, Kütschüm Kadin.<«
»Nicht K-kütschüm, sondern Kütschük«, korrigierte Fandorin und errötete plötzlich, was Warja sonderbar fand.
Surow stieß einen Pfiff aus.
»Oho! Woher weißt du das?«
Fandorin schwieg und sah höchst verdrossen aus.
»Herr Fandorin hat als Gast bei einem türkischen Pascha gelebt«, teilte Warja einschmeichelnd mit.
»Und dich hat der ganze Harem betreut?« fragte der Graf lebhaft. »Erzähl schon, hab dich nicht so.«
»Nicht der ganze, nur die Kütschük Chanum«, knurrte der Titularrat, der sichtlich keine Lust hatte,
auf Einzelheiten einzugehen. »Ein sehr liebes, teilnahmsvolles M-mädchen. Und ganz modern. Sie spricht französisch und englisch, liebt Byron. Interessiert sich für Medizin.«
Der Agent zeigte sich hier von einer neuen, überraschenden Seite, die Warja nicht so recht gefallen wollte.
»Eine moderne Frau würde nicht als fünfzehnte Ehefrau in einem Harem leben«, fauchte sie. »Das ist erniedrigend und barbarisch.«
»Bitte um Vergebung, Mademoiselle, aber das ist ein bißchen ungerecht«, warf d'Hevrais auf russisch ein, ging aber gleich zum Französischen über. »Schauen Sie, während meiner jahrelangen Wanderungen durch den Orient habe ich den moslemischen Alltag ganz gut studiert.«
»Ja, Charles, erzählen Sie«, bat MacLaughlin. »Ich erinnere mich an Ihre Artikelserie über das Haremsleben. Sie war ausgezeichnet.« Der Ire war gerührt über seine eigene Großmut.
»Jede gesellschaftliche Einrichtung, auch die Vielweiberei, muß in ihrem historischen Kontext gesehen werden«, begann d'Hevrais in professoralem Ton, aber Surow schnitt eine solche Grimasse, daß der Franzose zur Vernunft kam und normal weitersprach. »Unter den Bedingungen des Orients ist der Harem für die Frau die einzige Möglichkeit zu überleben. Urteilen Sie selbst: Die Muselmanen waren von Anfang an ein Volk der Krieger und Propheten. Die Männer lebten für den Krieg und fielen im Kampf, und zahllose Frauen blieben als Witwen zurück oder konnten gar nicht erst einen Ehemann finden. Wer sollte sie und ihre Kinder ernähren? Mohammed hatte fünfzehn Frauen, aber keineswegs aus übermäßiger Lüsternheit, sondern aus Menschlichkeit. Er sorgte für die Witwen seiner gefallenen Mitstreiter, und im westlichen Sinne konnten sich diese Frauen nicht einmal seine Gattinnen nennen. Was ist also ein Harem, meine Herren? Sie stellen sich ihn doch so vor: ein murmelnder Springbrunnen, halbnackte Odalisken, die träge Rachat Lokum kauen, das Klirren der Münzketten und der würzige Duft von Parfüm, und das Ganze eingehüllt in einen von Ausschweifung übersättigten Dunst.«
»Und mittendrin der Gebieter des ganzen Hühnerhofs im Kaftan, mit Wasserpfeife, ein seliges Lächeln auf den roten Lippen«, warf der Husar träumerisch ein.
»Ich muß Sie betrüben, Monsieur Rittmeister. Zum Harem gehören außer den Ehefrauen viele arme Verwandte, ein Haufen Kinder, auch fremde, außerdem zahlreiche Dienerinnen, alte Sklavinnen, die dort ihren Lebensabend fristen, und Gott weiß wer noch alles. Sie alle ernährt und unterhält der Mann. Je reicher und mächtiger er ist, desto mehr Kostgängerinnen hat er, und um so schwerer wiegt die Last seiner Verantwortung. Das Haremsystem ist nicht nur human, sondern auch das einzig mögliche unter den Bedingungen des Orients - sonst würden viele Frauen einfach verhungern.«
»Sie beschreiben den türkischen Ehemann als eine Art Charles Fourier«, mischte Warja sich ein. »Wär's nicht besser, der Frau die Möglichkeit zu geben, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen, als sie wie eine Sklavin zu halten?«
»Die orientalische Gesellschaft ist schwerfällig und nicht zu Veränderungen geneigt, Mademoiselle Barbara«, antwortete der Franzose ehrerbietig, und er sprach ihren Namen so nett aus, daß sie ihm unmöglich böse sein konnte. »Sie hat wenig Arbeitsplätze, um jeden muß gekämpft werden, und gegen die Männer können die Frauen nicht konkurrieren. Überdies ist eine Ehefrau keineswegs eine Sklavin. Wenn der Mann ihr nicht mehr gefällt, kann sie sich immer die Freiheit zurückholen. Dazu genügt es, ihrem Ehegespons das Leben so zur Hölle zu machen, daß er ihr vor Zeugen wütend zuruft: >Du bist nicht mehr meine Frau!< Sie werden zugeben, daß es nicht schwierig ist, einen Mann in solchen Zustand zu versetzen. Danach kann sie ihre Sachen packen und ihrer Wege gehen. Eine Scheidung ist im Orient einfacher als im Westen. Hinzu kommt, daß der Mann allein ist, die Frauen hingegen ein Kollektiv bilden. Ist es da erstaunlich, daß die wirkliche Macht dem Harem gehört und nicht dessen Besitzer? Die wichtigsten Personen im Osmanischen Reich sind nicht der Sultan und der
Großwesir, sondern die Mutter und die Lieblingsfrau des Padischah. Und natürlich der Obereunuch des Harems.«
»Trotzdem, wieviel Frauen darf der Sultan haben?« fragte Perepjolkin und blickte schuldbewußt zu Sobolew »Ich frag nur so, aus Neugier.«
»Vier, wie jeder Rechtgläubige. Aber außer den vollberechtigten Ehefrauen hat der Padischah noch Iqbal, so was wie Favoritinnen, und ganz junge Gedikli, >Mädchen, die dem Auge wohltun<, Anwärterinnen auf die Rolle der Iqbal.«
»Na, das ist schon besser.« Lucan nickte zufrieden und zwirbelte den Schnauzbart. Warja warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
Sobolew fragte lüstern: »Aber außer den Ehefrauen und Beischläferinnen gibt es doch auch noch Sklavinnen?«
»Alle Frauen des Sultans sind Sklavinnen, aber nur so lange, bis ein Kind geboren wird. Dann erhält die Mutter sofort den Titel einer Prinzessin und kommt in den Genuß aller ihr zustehenden Privilegien. Als Beispieclass="underline" Die allmächtige Besma, die Mutter des verstorbenen Abd ul Asis, war seinerzeit eine einfache Badegehilfin, aber sie hat Mahmud II. so erfolgreich eingeseift, daß er sie erst als Beischläferin nahm und sie später zu seiner Lieblingsfrau erhob. Die Frauen haben in der Türkei wahrhaft unbegrenzte Karrieremöglichkeiten.«