»Aber es muß doch verdammt anstrengend sein, solch eine Last am Hals zu haben«, sagte einer der Journalisten nachdenklich.
»Einige Sultane sind auch schon zu diesem Schluß gelangt«, sagte d'Hevrais schmunzelnd.
»Ibrahim I. zum Beispiel hatte alle seine Frauen gründlich satt. Für Iwan den Schrecklichen und Heinrich VIII. war die Situation einfacher - die alte Frau auf den Richtblock oder ins Kloster, und schon konnten sie eine neue nehmen. Aber was macht man, wenn man einen ganzen Harem hat?«
»Ja, was?« fragten die Zuhörer.
»Meine Herren, die Türken kapitulieren nicht vor solchen Schwierigkeiten. Der Padischah ließ alle Frauen in Säcke stopfen und im Bosporus ersäufen. Am nächsten Morgen waren Seine Majestät Junggeselle und konnten sich einen neuen Harem zulegen.«
Die Männer wieherten, doch Warja rief: »Schämen Sie sich, meine Herren, das ist doch entsetzlich!«
»Mademoiselle Warja, schon seit fast hundert Jahren sind die Sitten am Hof des Sultans gemäßigter«, sagte d'Hevrais tröstend. »Und das dank einer außergewöhnlichen Frau, übrigens einer Landsmännin von mir.«
»Erzählen Sie«, bat Warja.
»Das war so. Auf dem Mittelmeer kreuzte ein französisches Schiff, und unter den Passagieren war ein siebzehnjähriges Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit. Sie hieß Aimee Dubuc de Rivery und stammte von der zauberhaften Insel Martinique, die der Welt schon mehrere legendäre Schönheiten geschenkt hatte, darunter Madame de Maintenon und Josephine Beauharnais. Mit der letzteren, die damals noch schlicht Josephine Tascher de la Pagerie hieß, war unsere junge Aimee gut bekannt, ja, befreundet. Die Geschichte verschweigt, warum die reizende Kreolin die Schiffsfahrt unternehmen mußte, und das auf Meeren, die von Piraten wimmelten. Wir wissen nur, daß das Schiff vor der Küste von Sardinien von Korsaren gekapert und die Französin nach Algier gebracht wurde, auf den Sklavenmarkt, wo sie der algerische Dei persönlich kaufte. Der Dei war alt, und weibliche Schönheit interessierte ihn nicht mehr, dafür interessierten ihn gute Beziehungen zur Hohen Pforte, und so wurde die arme Aimee nach Stambul verfrachtet, als lebendiges Geschenk für den Sultan Abd ul Hamid I., den Großvater des jetzigen Abd ul Hamid II. Der Padischah behandelte seine Gefangene sorgsam wie einen kostbaren Schatz, er zwang sie zu nichts, sie mußte nicht einmal zum Islanm
konvertieren. Der weise Herrscher zeigte Geduld, und Aimee lohnte es ihm mit Liebe. Sie gebar ihm den Prinzen Mahmud, der später Monarch wurde und als großer Reformer in die Geschichte einging. Die Mutter lehrte ihn die französische Sprache, weckte seine Vorliebe für die französische Literatur und das französische Freidenkertum. Seitdem wendet die Türkei das Gesicht dem Westen zu.«
»Sie erzählen ja Märchen«, sagte MacLaughlin zänkisch. »Bestimmt haben Sie wieder geflunkert und übertrieben.«
Der Franzose lächelte verschmitzt und schwieg, Surow aber, der schon einige Zeit Ungeduld spüren ließ, rief plötzlich: »Übrigens, meine Herren, wollen wir nicht ein Spielchen machen? Wir reden nur immerzu. Das ist irgendwie ungesellig.«
Warja hörte Fandorin dumpf aufstöhnen.
»Erasmus, dich bitte ich nicht darum«, sagte der Graf eilig. »Du stehst ja mit dem Teufel im Bunde.«
»Euer Exzellenz«, sagte Perepjolkin empört, »Sie werden doch nicht dulden, daß in Ihrer Anwesenheit Glücksspiele stattfinden?«
Aber Sobolew wedelte ihn weg wie eine zudringliche Fliege.
»Hören Sie auf, Hauptmann. Seien Sie nicht so fade. Sie haben's gut, Sie können in Ihrer Operationsabteilung irgendwelche Arbeiten machen, aber ich bin schon ganz eingerostet vom Nichtstun. Graf, ich spiele nicht, meine Natur ist zu unbändig, aber zuschauen will ich gern.«
Perepjolkin sah den schönen General mit den Augen eines geprügelten Hundes an.
»Vielleicht ein kleines Spiel?« sagte Lucan unsicher. »Um das Kampfbündnis zu festigen.«
»Klar doch, zur Festigung und nur ein kleines.« Surow nickte und schüttete aus seiner ledernen Umhängetasche versiegelte Kartenspiele auf den Tisch. »Einsatz je ein Hunderter. Wer geht mit, meine Herren?«
Die Bank war schnell aufgelegt, und alsbald schallten im Zelt die Zaubersprüche: »Die Karozicke.«
»Nehmen wir mit dem König, meine Herren!«
»L'as de carreau.«
»Ha-ha, gestochen.«
Warja trat zu Fandorin und fragte: »Warum nennt er Sie Erasmus?«
»Das hat sich so e-ergeben«, sagte Fandorin ausweichend.
Sobolew holte geräuschvoll Luft. »Krüdener zieht bestimmt schon gegen Plewna, und ich sitze hier wie eine gestochene Lusche.«
Perepjolkin saß neben seinem Abgott und tat so, als interessiere ihn das Spiel.
Der verdrossene MacLaughlin stand mit seinem Schachbrett unterm Arm einsam da, knurrte etwas auf englisch und übersetzte es ins Russische: »Aus dem Presseklub ist eine Spelunke geworden.«
»He, Wirt, hast du Schustowschen? Bring her!« rief der Husar dem Büfettier zu. »Wenn schon amüsieren, dann richtig.«
Es wurde in der Tat ein amüsanter Abend.
Dafür war der Presseklub tags darauf nicht wiederzuerkennen: Die Russen waren finster und niedergedrückt, die Presseleute hingegen aufgedreht, sie unterhielten sich halblaut, und von Zeit zu Zeit lief der eine oder andere, der neue Einzelheiten erfahren hatte, zur Telegraphenstelle - es hatte eine Riesensensation gegeben.
Schon um die Mittagszeit waren häßliche Gerüchte durchs Lager gekrochen, und in der sechsten Stunde, als Warja und Fandorin vom Schießstand kamen (der Titularrat unterwies seine Gehilfin im Gebrauch des Revolvers), lief ihnen Sobolew entgegen, düster und aufgeregt.
»Eine schöne Geschichte«, sagte er und rieb sich nervös die Hände. »Schon gehört?«
»Plewna?« fragte Fandorin hoffnungslos.
»Totale Niederlage. General Schilder hat ohne Aufklärung angegriffen, um Osman Pascha zuvorzukommen. Wir hatten siebentausend Mann, die Türken waren in der Übermacht. Unsere Marschkolonnen attackierten frontal und gerieten unter Kreuzfeuer. Der Kommandeur des Archangelsker Regiments Rosenbom ist gefallen, der Kommandeur des Kostromaer Regiments Kleinhaus tödlich verwundet, Generalmajor Knorring wurde auf einer Trage zurückgebracht. Ein Drittel unserer Männer ist hin. Das reinste Gemetzel. Von wegen drei Bataillone! Die Türken sind auch anders als früher. Sie haben gefochten wie die Teufel.«
»Und d'Hevrais?« fragte Fandorin rasch.
»Nichts weiter. Er sieht grün aus und stammelt Rechtfertigungen. Kasansaki hat ihn abgeführt, um ihn zu vernehmen. Na, jetzt geht es los. Vielleicht krieg ich endlich meine Ernennung. Perepjolkin hat schon angedeutet, daß es eine Chance gibt.« Und der General ging federnden Schritts in Richtung Stab.
Bis zum Abend hatte Warja im Hospital zu tun, sie half, chirurgische Instrumente zu sterilisieren. Es waren so viele Verwundete gebracht worden, daß zwei weitere Zelte aufgestellt werden mußten. Die Krankenschwestern rannten sich die Hacken ab. Es roch nach Blut und Leid. Die Verwundeten schrien und beteten.
Erst gegen Mitternacht konnte Warja sich losreißen und das Pressezelt aufsuchen, wo sich die Atmosphäre, wie schon gesagt, grundlegend von der gestrigen unterschied.
Das Leben brodelte nur am Spieltisch, wo schon die zweite Nacht ohne Unterbrechung das Spiel lief. Der bleiche Surow qualmte eine Zigarre und gab schnell Karten. Er aß nichts, trank aber unentwegt, ohne betrunken zu werden. An seinem Platz türmten sich Banknoten, Goldmünzen und Schuldscheine. Ihm gegenüber saß mit zerrauftem Haar der entnervte Oberst Lucan. Daneben schlief ein Offizier, den hellblonden Kopf auf den gekreuzten Armen. Um den Tisch herum flatterte wie ein fetter Falter der Büfettier, um die Wünsche des erfolgreichen Glücksspielers im Fluge zu erhaschen.
Fandorin war nicht im Klub, d'Hevrais auch nicht, MacLaughlin spielte Schach, Sobolew, von Offizieren umringt, war mit der Generalstabskarte beschäftigt und würdigte Warja keines Blicks.