Sie bereute schon, gekommen zu sein, und sagte: »Graf, schämen Sie sich nicht? Wo doch so viele gefallen sind.«
»Aber wir leben, Mademoiselle«, sagte Surow zerstreut und klopfte auf das Kartenspiel. »Sollen wir uns vor der Zeit in den Sarg legen? Oh, das ist Bluff, Lucan. Ich verdoppele.«
Lucan riß den Brillantring vom Finger.
»Ich will sehen.« Langsam, ganz langsam griff er mit zitternder Hand nach Surows Karten, die mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch lagen.
In diesem Moment sah Warja den Oberstleutnant Kasansaki geräuschlos hereinschweben, einem Raben erschreckend ähnlich, der süßlichen Leichengeruch gewittert hat. Sie erinnerte sich, womit das Erscheinen des Gendarmen beim letzten Mal geendet hatte, und zuckte zusammen.
»Herr Käsansaki, wo ist d'Hevrais?« sprach MacLaughlin ihn an.
Der Oberstleutnant schwieg vielsagend, wartete, bis im Klub Stille herrschte. Dann antwortete er kurz: »Bei mir. Er schreibt eine Erklärung.« Er räusperte sich und fügte drohend hinzu: »Dann entscheiden wir.«
Die lastende Pause wurde von Surows dreistem Baß unterbrochen: »Das ist der berühmte Gendarm Kosinaki? Ich grüße Sie, Herr Maulschelle.« Mit blitzenden frechen Augen starrte er den rot anlaufenden Oberstleutnant erwartungsvoll an.
»Ich habe viel von Ihnen gehört, Herr Raufbold«, versetzte Kasansaki gemächlich und sah den Husaren durchdringend an. »Man kennt Sie. Beißen Sie sich lieber auf die Zunge, sonst rufe ich den
Posten und schicke Sie auf die Hauptwache wegen Glücksspiel im Feldlager. Und die Bank wird beschlagnahmt.«
»Da sieht man gleich - ein ernsthafter Mensch.« Surow griente. »Er begreift alles und schweigt wie das Grab.«
Lucan hatte endlich Surows Karten aufgedeckt und griff sich stöhnend an den Kopf. Surow beäugte skeptisch den gewonnenen Ring.
»Nein, Major, wo soll da Verrat sein!« hörte Warja die gereizte Stimme Sobolews. »Perepjolkin, dieser Stabskopf, hat recht: Osman ist beschleunigt marschiert, und unsere Großmäuler haben solches Tempo von den Türken nicht erwartet. Jetzt ist mit den Scherzen Schluß. Wir haben einen gefährlichen Gegner, und der Krieg wird ernst.«
SECHSTES KAPITEL,
in welchem Plewna und Warja einer Belagerung standhalten
»WienerZeitung« (Wien) vom 30. (18.) Juli 1877
»Unser Korrespondent berichtet aus Schumen, wo sich das Stabsquartier der türkischen Balkanarmee befindet.
Nach der Blamage von Plewna sind die Russen in eine dumme Lage geraten. Ihre Kolonnen ziehen sich Dutzende, ja, Hunderte Kilometer von Süden nach Norden, ihre Verbindungswege sind ungeschützt, ihr rückwärtiger Raum steht offen. Durch das geniale Flankenmanöver von Osman Pascha haben die Türken Zeit gewonnen für die Umgruppierung ihrer Kräfte, und die kleine bulgarische Stadt ist für den russischen Bären zu einem Splitter in seiner zottigen Flanke geworden In Kreisen, die dem Hof von Konstantinopel nahesteher, herrscht zurückhaltender Optimismus.«
Einerseits standen die Dinge so scheußlich, wie es scheußlicher nicht ging. Der arme Petja schmachtete hinter Schloß und Riegel - nach dem Blutbad von Plewna hatte der bösartige Kasansaki keine Zeit für den Chiffrierer, aber das Tribunal drohte Petja noch immer.
Andererseits (Warja gestand es sich ungern ein) war ihr Leben noch nie so ... interessant gewesen. Ja: interessant, das Wort traf es genau.
Der Grund, wenn sie ehrlich sein wollte, war unanständig einfach. Zum erstenmal im Leben hatte sie so viele Verehrer auf einmal, und was für Verehrer! Kein Vergleich mit den Reisegefährten von neulich und mit den pickligen Petersburger Studenten. Die banale Weibsnatur, mochte Warja sie noch so sehr unterdrücken, wuchs wie ein Unkraut aus dem dummen, eitlen Herzen. Das war nicht gut.
Am Morgen des 18. Juli, einem wichtigen und beachtenswerten Tag (darüber später), erwachte Warja mit einem Lächeln. Sie war noch nicht richtig wach, da spürte sie schon durch die geschlossenen Lider das Sonnenlicht, sie streckte sich wohlig, und ein freudiges und festliches Gefühl beherrschte sie. Erst als nach dem Körper auch der Verstand erwacht war, erinnerte sie sich an Petja und den Krieg. Mit Willenskraft zwang sie sich, die Stirn zu krausen und an etwas Trauriges zu denken, aber in ihren schlaftrunken ungehorsamen Kopf schlüpfte etwas ganz anderes: Wenn sie sich zu Petjas Ergebenheit Sobolews Ruhm hinzudachte, Surows Verwegenheit, d'Hevrais' Talente,
Fandorins strengen Blick ... Doch nein, Fandorin paßte nicht hierher, denn zu ihren Verehrern konnte sie ihn beim besten Willen nicht zählen.
Mit dem Titularrat war alles irgendwie in der Schwebe. Seine Gehilfin war sie nach wie vor nur nominell. In seine Geheimnisse weihte er sie nicht ein, dabei war er durchaus aktiv. Manchmal verschwand er für eine Weile, dann wieder saß er in seinem Zelt und empfing bulgarische Bauern mit übelriechenden Hammelfellmützen. Bestimmt aus Plewna, dachte Warja, war aber zu stolz, um zu fragen. Was sollte die Geheimnistuerei - Plewnaer Einwohner kamen nicht eben selten ins russische Lager. Selbst der Journalist MacLaughlin hatte einen eigenen Informanten, der ihm höchst wertvolle Nachrichten über das Leben der türkischen Garnison brachte. Dieses Wissen gab der Ire freilich nicht an die russische Führung weiter, wobei er sich auf das »journalistische Ethos« berief, dafür kannten die Leser der »Daily Post« durch ihn den Tagesablauf Osman Paschas ebenso wie die mächtigen Festungswerke, die nicht in Tagen, sondern in Stunden rund um die belagerte Stadt wuchsen.
Aber auch in der Westgruppe der russischen Armee bereitete man sich diesmal gründlich auf die Schlacht vor. Der Sturmangriff war für heute festgesetzt, und alle sagten, das »Mißverständnis von Plewna« werde jetzt gewiß bereinigt. Gestern hatte Fandorin für Warja mit einer Gerte die türkischen Befestigungen auf die Erde gezeichnet und ihr erklärt, nach seinen Informationen verfüge Osman Pascha über 20000 Asker und 58 Geschütze, Generalleutnant Krüdener habe jedoch 32000 Soldaten und 176 Geschütze um die Stadt zusammengezogen, außerdem stießen noch Rumänen dazu. Es sei eine listige, streng geheime Disposition erarbeitet worden, mit einem verdeckten Umgehungsmanöver und einer Scheinattacke. Fandorin erklärte es so gut, daß Warja sofort an den Sieg der russischen Waffen glaubte und nicht mal genau zuhörte, sondern mehr den Titularrat beguckte und rätselte, wer die Blondine aus dem Medaillon sein mochte. Kasansaki hatte etwas Seltsames von einer Heirat gesagt. Ob sie seine Frau war? Dafür war sie viel zu jung, fast noch ein kleines Mädchen.
Das war so gekommen. Vor drei Tagen war Warja nach dem Frühstück zu Fandorin gegangen und hatte gesehen, daß er angezogen und mit dreckigen Stiefeln auf dem Bett lag. Er war offenbar erst gegen Morgen zurückgekehrt und schlief tief und fest. Schon wollte sie sich leise zurückziehen, da sah sie plötzlich im offenen Hemdkragen auf der Brust des Schläfers das silberne Medaillon. Die Versuchung war gar zu groß. Auf Zehenspitzen schlich Warja zum Bett und ließ dabei kein Auge von Fandorins Gesicht. Der atmete gleichmäßig mit etwas offenem Mund und erinnerte jetzt an einen kleinen Jungen, der sich aus Übermut die Schläfen gepudert hat.
Überaus behutsam, mit zwei Fingern, nahm Warja das Medaillon, klappte das Deckelchen auf und erblickte ein winziges Porträt. Ein Püppchen, ein Gretchen: goldene Locken, Äuglein, Mündchen, Wänglein. Nichts Besonderes. Warja warf einen mißbilligenden Seitenblick auf den Schläfer und lief dunkelrot an, denn unter langen Wimpern hervor sahen ernste hellblaue Augen mit sehr schwarzen Pupillen sie an.
Etwas zu erklären wäre dumm gewesen, und Warja ergriff einfach die Flucht, was auch nicht sehr klug war, ihr aber eine unangenehme Szene ersparte. Seltsamerweise verhielt sich Fandorin später so, als hätte diese Episode nie stattgefunden.