Der Wirt nickte zu Warja hin und sagte speichelnd etwas, woraufhin sich am Nebentisch alle nach ihr umdrehten und bedrohlich wieherten. Warja duckte sich und zog die Schapka über die Augen. Außer ihr hatte hier niemand eine Mütze auf. Aber absetzen konnte sie sie nicht, dann hätte ihr Haar, obwohl kurzgeschnitten, wie es sich für eine moderne Frau gehörte, ihre Zugehörigkeit zum schwachen Geschlecht verraten. Diese widerliche Bezeichnung - »das schwache Geschlecht« - war von Männern erdacht worden. Leider traf sie zu.
Warja wurde jetzt von allen Seiten angeglotzt, die Blicke waren klebrig und verhießen nichts Gutes. Nur die Würfelspieler interessierten sich nicht für sie, und am Nebentisch, näher zur Theke, saß mit dem Rücken zu ihr ein Mann, melancholisch über den Weinkrug gebeugt. Sie sah nur sein kurzes schwarzes Haar und die angegrauten Schläfen.
Warja hatte nun große Angst. Mach dich nicht verrückt, redete sie sich zu. Du bist eine erwachsene starke Frau und keine spießige Zierpuppe. Du mußt ihnen sagen, daß du eine Russin bist und zur Armee reist, zu deinem Bräutigam. Wir Russen kommen als Befreier Bulgariens und sind hier willkommen. Außerdem ist das Bulgarische mit dem Russischen verwandt, und wir werden uns schon verstehen.
Sie drehte sich nach dem Fenster um - vielleicht kam Mitko zurück? Doch auf der staubigen Straße waren weder Mitko noch die Karuza zu. sehen, dafür erblickte Warja etwas, was sie zuvor nicht beachtet hatte. Über den Häusern erhob sich ein Minarett mit abbröckelndem Putz. Oje! War sie etwa in einem muselmanischen Dorf? Aber die Bulgaren waren doch orthodoxe Christen, das war bekannt. Außerdem tranken sie hier Wein, was der Koran den Muselmanen verbot. Wiederum - wenn dies ein christliches Dorf war, wozu dann das Minarett? Und wenn ein muselmanisches, für wen waren dann die Leute hier, für uns Russen oder für die Türken? Für uns wohl kaum.
O Gott, was sollte sie tun?
Mit vierzehn war Warja im Religionsunterricht ein unwiderlegbarer Gedanke gekommen - wieso war bisher niemand darauf verfallen? Wenn Gott als erstes Adam geschaffen hat und erst danach Eva, so bedeutet das keineswegs, daß die Männer wichtiger, sondern daß die Frauen wertvoller sind. Der Mann ist ein Probemuster des Menschen, ein Entwurf, die Frau hingegen die endgültig bestätigte
Variante, ergänzt und korrigiert. Aber das interessante, wirkliche Leben gehört sonderbarerweise den Männern, und die Frauen dürfen nur gebären und sticken, gebären und sticken. Woher diese Ungerechtigkeit? Weil die Männer stärker sind. Also muß man stark sein.
Und Warja beschloß, anders zu leben. In den Amerikanischen Staaten gab es schon die erste Ärztin, Mary Jacobi, und die erste Priesterin, Antoinette Blackwell, doch in Rußland herrschte geistige Trägheit. Aber gebt uns nur Zeit.
Nach dem Abschluß des Gymnasiums führte Warja, ähnlich den Amerikanischen Staaten, einen siegreichen Unabhängigkeitskrieg (ihr Herr Vater, der Advokat Suworow, konnte dem nichts entgegensetzen) und belegte Geburtshilfekurse, womit sie den Wandel von der »Strafe Gottes« zur »verrückten Nihilistin« vollzog.
Mit den Kursen ging es nicht gut. Den theoretischen Teil bewältigte Warja mühelos, obwohl vieles an dem Prozeß der Schaffung eines menschlichen Wesens sie erstaunlich und unglaublich dünkte, doch als es galt, einer wirklichen Geburt beizuwohnen, versagte sie schmählich. Sie konnte das gellende Geschrei der Kreißenden und den grauenhaften Anblick des plattgedrückten Säuglingsköpfchens, das aus blutigem Fleisch hervorkam, nicht aushalten und plumpste in Ohnmacht. Danach blieb ihr nur übrig, auf Telegraphiekurse umzusteigen. Eine der ersten russischen Telegraphistinnen zu werden, das schmeichelte ihr zunächst durchaus, zumal die »Petersburger Nachrichten« über sie schrieben (am 28. November 1875 unter dem Titel »Das war längst fällig«), doch die Arbeit erwies sich als unerträglich langweilig und bot keinerlei Aussichten für die Zukunft.
Warja, zur Erleichterung der Eltern, fuhr auf das Gut im Tambowschen, doch nicht zum Müßiggang, sondern um Bauernkinder zu unterrichten und zu erziehen. Dort, in der nagelneuen, nach Kiefernspänen duftenden Schule, lernte sie den Petersburger Studenten Petja Jablokow kennen. Er unterrichtete Arithmetik, Geographie und die Grundlagen der Naturwissenschaften, sie alle übrigen Fächer. Recht bald aber ging den Bauern auf, daß der Schulbesuch weder Geld noch sonstige Vergnügungen zeitigen würde, und sie behielten die Kinder zu Hause (die sollten nicht faulenzen, sondern arbeiten). Warja und Petja hatten derweil schon einen Entwurf für ihr künftiges Leben fertig - frei, modern, fußend auf gegenseitiger Achtung und sinnvoller Verteilung der Pflichten.
Mit der demütigenden Abhängigkeit von den Almosen der Eltern sollte Schluß sein. Sie bezogen in Petersburg auf der Wyborger Seite eine Wohnung, darin gab es Mäuse, aber sie hatte immerhin drei Zimmer. Die brauchten sie, um so zu leben wie Vera Pawlowna und Lopuchin bei Tschernyschewski: Jeder hatte sein Revier, und das dritte Zimmer war für Gespräche und den Empfang von Gästen vorgesehen. Den Wirtsleuten erklärten sie sich für Mann und Frau, doch ihr Zusammenleben war rein kameradschaftlich: Abends lasen sie, tranken Tee und plauderten im Salon, dann wünschten sie einander eine gute Nacht und gingen jeder in sein Zimmer. So lebten sie fast ein Jahr, und es war ein gutes Jahr, ohne Schmutz und Abgeschmacktheit, sie waren ein Herz und eine Seele. Petja besuchte die Universität und gab Unterricht, Warja lernte Stenographie und verdiente bis zu hundert Rubel im Monat. Sie führte Protokoll bei Gericht, schrieb die Memoiren eines gedächtnisschwachen Generals auf, des Bezwingers von Warschau, und dann geriet sie auf Empfehlung, von Freunden an einen Großen Schriftsteller (wir lassen den Namen weg, denn es endete unschön), um dessen Roman zu stenographieren. Sie hegte Ehrfurcht für ihn und weigerte sich entschieden, Bezahlung anzunehmen, allein, der Beherrscher der Gedanken verstand das falsch. Er war entsetzlich alt, in den Sechzigern, mit einer großen Familie behaftet und überdies stockhäßlich. Dafür sprach er wohlgesetzt und überzeugend: In der Tat sei die Unschuld ein lächerliches Vorurteil und die bürgerliche Moral widerwärtig, und der menschlichen Natur brauche man sich nicht zu schämen. Warja hörte zu, dann beriet sie sich stundenlang mit Petja, was zu tun sei. Petja fand auch, daß Keuschheit und Scheinheiligkeit Fesseln seien, die der Frau aufgezwungen würden, aber mit dem Großen
Schriftsteller in physiologische Beziehungen zu treten, davon riet er ihr entschieden ab. Er ereiferte sich, argumentierte, daß der Schriftsteller gar nicht so groß sei, viele fortschrittliche Menschen hielten ihn sogar für einen Reaktionär. Es endete, wie schon gesagt, unschön. Eines Tages unterbrach der Große Schriftsteller das Diktat einer unglaublich starken Szene (Warja hatte Tränen in den Augen), atmete keuchend, schniefte, legte der dunkelblonden Stenographistin linkisch den Arm um die Schultern und zog sie zum Sofa. Ein Weilchen duldete sie sein wirres Gesäusel und die Berührungen seiner flatternden Finger, die sich in den Haken und Knöpfen verfingen, dann begriff sie auf einmal ganz deutlich, nein, sie begriff nicht, sondern sie fühlte: Das ist falsch und darf nicht stattfinden. Sie stieß den Großen Schriftsteller zurück, lief hinaus und ging nie wieder zu ihm.
Diese Geschichte brachte Petja auf dumme Gedanken. Es war März, der Frühling hatte zeitig begonnen, von der Newa her roch es nach Weite und nach Eisgang, und Petja stellte ein Ultimatum: So könne es nicht weitergehen, sie seien füreinander geschaffen, ihre Beziehung habe der Zeit standgehalten. Sie beide seien lebendige Menschen und dürften die Gesetze der Natur nicht mißachten. Er sei mit körperlicher Liebe auch ohne Brautkranz einverstanden, aber besser sei es, richtig zu heiraten, denn das enthebe vieler Komplikationen. Und dann lenkte er es geschickt so, daß nur noch darüber diskutiert wurde, wie sie sich trauen lassen würden, standesamtlich oder kirchlich. Die Streitgespräche dauerten bis in den April, im April begann der langerwartete Krieg zur Befreiung der slawischen Brüder, und Petja Jablokow als ordentlicher Mensch meldete sich freiwillig. Vor seiner Abreise versprach Warja ihm zweierlei: ihm bald eine endgültige Antwort zu geben und ihm unbedingt in den Krieg zu folgen, ihr werde da schon etwas einfallen.