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Er war ein kalter, unangenehmer Mensch, der sich selten in ein Gespräch einmischte, und wenn doch, dann sagte er mit Sicherheit etwas, daß Warja die Wut packte. Wenn sie nur an den Streit über Parlament und Volksmacht dachte, der sich während eines Picknicks entzündete (eine große Gesellschaft war in die Hügel gefahren, und Fandorin war mitgeschleppt worden, obwohl er lieber in seiner Höhle geblieben wäre).

D'Hevrais erzählte von der Verfassung, die der ehemalige Großwesir Midhat Pascha vor Jahresfrist in der Türkei eingeführt hatte. Es war interessant. Sieh mal an, ein wildes asiatisches Land und hat ein Parlament, anders als Rußland!

Dann kam es zum Streit, welches Parlamentssystem das beste sei. MacLaughlin war für das britische, d'Hevrais, obwohl Franzose, für das amerikanische. Sobolew setzte auf ein besonderes, althergebracht russisches System der Adligen und Bauern.

Als Warja das Wahlrecht für die Frauen verlangte, wurde sie einmütig ausgelacht. Der Kommißknochen Sobolew spottete: »Oh, Warwara Andrejewna, wenn ihr Frauen das bekommt, wählt ihr ja doch nur Stutzer und Galane ins Parlament. Sollte eine wie Sie die Wahl haben zwischen Fjodor Dostojewski und unserm Rittmeister Surow - wen würden Sie vorziehen? Na bitte.«

»Meine Herren, kann man gegen seinen Willen ins Parlament gewählt werden?« fragte Surow besorgt, was die Heiterkeit noch vergrößerte.

Vergeblich sprach Warja über gleiche Rechte und den amerikanischen Staat Wyoming, wo die Frauen das Stimmrecht besaßen und dies keine entsetzlichen Folgen hatte. Niemand nahm ihre Worte ernst.

»Warum sagen Sie denn nichts?« appellierte Warja an Fandorin, und da äußerte er etwas, was er besser für sich behalten hätte: »Warwara Andrejewna, ich bin überhaupt gegen D- demokratie.« (Sprach's und errötete.) »Die Menschen sind von Natur aus nicht gleich, dagegen ist nichts zu machen. Das demokratische Prinzip beschneidet die Rechte derer, die klüger, b-begabter, fleißiger sind und macht diese abhängig von dem dumpfen Willen der Dummen, Unbegabten und Faulen, weil die in der Gesellschaft immer die Mehrheit sind. Unsere Landsleute sollen erst mal die Unordnung abschaffen und sich das Recht verdienen, sich B-bürger zu nennen, danach kann man auch über ein Parlament nachdenken.«

Diese unerhörte Bekundung brachte Warja ganz durcheinander, aber d'Hevrais kam ihr zu Hilfe.

»Und trotzdem, wenn in einem Land das Wahlrecht schon eingeführt ist«, sagte er sanft (das Gespräch wurde natürlich französisch geführt), »ist es ungerecht, die Hälfte der Menschheit zu beleidigen, noch dazu die bessere Hälfte.«

In Erinnerung an diese wundervollen Worte lächelte Warja, drehte sich auf die Seite und dachte über d'Hevrais nach.

Gottlob ließ Kasansaki den Mann endlich in Ruhe. Als ob General Krüdener auf Grund eines Interviews strategische Entschlüsse fassen würde! Der arme d'Hevrais war ganz von Kräften gekommen, er nervte alle und jeden mit Erklärungen und Rechtfertigungen. So schuldbewußt und unglücklich gefiel er Warja noch besser. Vorher war er ihr ein wenig selbstverliebt vorgekommen, gar zu sehr gewöhnt an die allgemeine Anerkennung, und sie hatte zu ihm Distanz gehalten, doch jetzt war das nicht mehr nötig, und sie ging freundlich und ungezwungen mit ihm um. Er war ein unterhaltsamer Mensch, anders als Fandorin, und wußte furchtbar viel - von der Türkei, vom alten Orient, von der französischen Geschichte. Wo hatte ihn seine Abenteuerlust nicht schon alles hingeführt! Und wie nett er seine recits di'les (*(franz.) Anekdoten.) erzählte - witzig, lebendig, ohne Angeberei. Warja mochte es sehr, wenn der Franzose als Antwort auf eine Frage erst eine besondere Pause machte, verschmitzt lächelte und hintergründig sagte: »Oh, c'est toute une histoire, mademoiselle (*(franz.) Das ist eine ganze Geschichte).« Und im Gegensatz zu dem Geheimniskrämer Fandorin erzählte er sie auch gleich.

Es waren meist komische, manchmal auch schreckliche Geschichten. Eine davon war Warja besonders im Gedächtnis geblieben.

»Mademoiselle Warja, Sie beschimpfen die Asiaten, weil sie das Menschenleben geringschätzen, und Sie haben recht« (es ging um die Bestialitäten der Baschi-Bosuks). »Aber es sind ja Wilde, Barbaren, in ihrer Entwicklung nicht weit weg von Tigern und Krokodilen. Ich beschreibe Ihnen mal eine Szene, die ich im zivilisiertesten aller Länder, in England, mit angesehen habe. Oh, das ist eine ganze Geschichte! Die Briten schätzen ein Menschenleben so hoch, daß für sie die schlimmste Sünde der Selbstmord ist - und der Versuch, Hand an sich zu legen, wird mit der Todesstrafe geahndet. So weit ist man im Orient noch nicht. Als ich vor ein paar Jahren in London war, sollte im dortigen Gefängnis ein Sträfling gehängt werden. Er hatte ein furchtbares Verbrechen begangen - hatte sich irgendwie ein Rasiermesser verschafft und versucht, sich die Kehle durchzuschneiden; das war ihm auch teilweise gelungen, aber der Gefängnisarzt konnte ihn retten. Ich war erschüttert von der Logik des Richters und beschloß, mir die Exekution mit eigenen Augen anzusehen. Ich ließ meine Verbindungen spielen, bekam einen Passierschein und wurde nicht enttäuscht.

Der Verurteilte hatte sich die Stimmbänder beschädigt und konnte nur noch krächzen, darum fiel das letzte Wort weg. Es gab ein langes Gezänk mit dem Arzt, der erklärte, dieser Mann könne nicht gehängt werden, denn die Schnittwunde werde sich öffnen und der Gehängte direkt durch die Luftröhre atmen. Der Staatsanwalt und der Gefängnisdirektor ratschlagten und befahlen dem Henker, ans Werk zu gehen. Der Arzt behielt jedoch recht: Unter dem Druck der Schlinge platzte die Wunde sofort auf, und der am Strick baumelnde Delinquent schnappte mit schrecklichem Pfeifen nach Luft. Er hing fünf, zehn, fünfzehn Minuten und starb nicht, nur sein Gesicht lief blau an.

Man beschloß, den Richter zu holen, der das Urteil gesprochen hatte. Da die Exekution in aller Frühe stattgefunden hatte, dauerte es eine Weile, den Richter wachzukriegen. Nach einer Stunde kam er und fällte eine salomonische Entscheidung: den Gehängten herunterzunehmen und nochmals zu hängen, diesmal aber die Schlinge nicht oberhalb, sondern unterhalb des Schnitts zuzuziehen. So geschah es. Die Hinrichtung verlief erfolgreich. Da haben Sie die Früchte der Zivilisation.«

Der Gehängte mit der lachenden Kehle erschien Warja nachts im Traum. »Es gibt keinen Tod«, sagte die blutende Kehle mit der Stimme von d'Hevrais. »Es gibt nur die Rückkehr an den Start.«

Aber die Rückkehr an den Start stammte von Sobolew.

»Ach, Warwara Andrejewna, mein ganzes Leben ist ein Hindernisrennen«, hatte ihr der junge General gesagt und bitter das kurzgeschorene Haupt geschüttelt. »Nur nimmt mich der Richter immer wieder aus der Distanz und schickt mich zurück an den Start. Urteilen Sie selbst. Angefangen als Gardekavallerist, im Krieg gegen Polen ausgezeichnet, aber dann eine dumme Geschichte mit einer jungen Polin - und zurück an den Start. Die Akademie des Generalstabs absolviert, Ernennung nach Turkestan, aber dann ein idiotisches Duell mit tödlichem Ausgang - und wieder an den Start. Eine Fürstin geheiratet, auf Glück gehofft - von wegen! Wieder allein. Wieder freiwillig in die Wüste gemeldet, mich selbst und die Leute nicht geschont, wie durch ein Wunder am Leben geblieben - und wieder nichts. Ich vegetiere als Kostgänger und warte auf einen neuen Start. Ob ich ihn erlebe?«

Sobolew, anders als d'Hevrais, tat Warja nicht leid. Erstens kokettierte er mit seinem »Start« - immerhin war er mit dreiunddreißig General der Suite, hatte zwei Georgskreuze und einen goldenen Degen. Zweitens versuchte er gar zu offen Mitleid zu schinden. Wahrscheinlich hatten ihm schon auf der Offiziersschule die älteren Kameraden gesagt, ein Sieg in der Liebe sei auf zwei Wegen erreichbar: entweder durch eine Kavallerieattacke oder durch das Schaufeln von Laufgräben zum mitleidigen Frauenherzen.