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»Darf ich bitten«, sagte der Oberst mit einer Verbeugung, und Warja, neugierig geworden, nahm auf der federnden Sitzbank Platz.

»Wo soll's denn hingehen?« fragte sie. »In die Offizierskantine?«

Der Rumäne schmunzelte geheimnisvoll, als wollte er Warja zumindest hinter die sieben Berge entführen.

Der Oberst benahm sich in letzter Zeit überhaupt recht rätselhaft. Nach wie vor saß er nächtelang beim Kartenspiel, aber hatte er in den ersten Tagen seiner unheilvollen Bekanntschaft mit Surow einen gehetzten und unglücklichen Eindruck gemacht, so war er jetzt wieder obenauf, obwohl er immer noch erhebliche Beträge verspielte.

»Wie war das Spiel gestern?« fragte Warja mit einem Blick auf Lucans braune Augenringe.

»Fortuna ist endlich zu mir zurückgekehrt«, sagte der Oberst strahlend. »Surows Glückssträhne ist zu Ende. Kennen Sie das Gesetz der großen Zahlen? Wenn man Tag für Tag große Summen setzt, gewinnt man sie früher oder später mit Sicherheit zurück.«

Soweit Warja sich erinnerte, hatte Petja ihr diese Theorie ein wenig anders erklärt, aber sie mochte nicht streiten.

»Der Graf hat auf seiner Seite den blinden Erfolg, ich die mathematische Berechnung und ein gewaltiges Vermögen. Da, schauen Sie.« Er spreizte den kleinen Finger ab. »Ich habe meinen Familienring zurückgewonnen. Ein indischer Diamant, elf Karat. Den hat einer meiner Vorfahren von einem Kreuzzug mitgebracht.«

»Haben denn Rumänen an Kreuzzügen teilgenommen?« fragte Warja verwundert und bekam nun eine Lektion über den Stammbaum des Obersts zu hören, der bis auf den römischen Legaten Lucan Mauricius Tullus zurückginge.

Die Kutsche war mittlerweile aus dem Lager gerollt und hielt jetzt in einem schattigen Hain. Unter einer alten Eiche stand ein Tisch, mit einem gestärkten weißen Tuch bedeckt, und darauf erblickte Warja so viele Leckerbissen, daß sie sogleich Hunger bekam. Da gab es französischen Käse und Obst und Räucherlachs und rosigen Schinken und rote Krebse, und aus einem silbernen Eimerchen blickte eine Flasche Lafite.

Somit waren auch Lucan gewisse Vorzüge nicht abzusprechen.

Als sie das erste Glas hoben, grummelte es in der Ferne, und Warjas Herz krampfte sich zusammen. Wie konnte sie sich nur so ablenken lassen! Der Sturmangriff hatte begonnen. Dort stürzten jetzt Gefallene, stöhnten Verwundete, und sie ...

Schuldbewußt schob sie die Schale mit den smaragdgrünen Trauben zurück und sagte: »Mein Gott, wenn dort nur alles nach Plan läuft.«

Der Oberst kippte sein Glas und schenkte sich sofort nach. Kauend bemerkte er: »Der Plan ist natürlich gut. Als persönlicher Vertreter Seiner Hoheit kenne ich ihn und habe sogar teilweise daran mitgearbeitet. Besonders geistreich ist das Umgehungsmanöver in der Deckung einer Hügelkette. Die Kolonnen von Schachowskoi und Weljaminow rücken von Osten gegen Plewna. Die kleine Abteilung von Sobolew zieht im Süden die Aufmerksamkeit von Osman Pascha auf sich. Auf dem Papier sieht das sehr schön aus.« Lucan leerte sein Glas. »Aber der Krieg, Mademoiselle Warwara, findet nicht auf dem Papier statt. Ihre Landsleute werden rein gar nichts erreichen.«

»Aber warum nicht?« fragte Warja.

Der Oberst tippte sich auflachend gegen die Schläfe. »Ich bin Stratege, Mademoiselle, und blicke weiter als Ihre Generalstäbler. Hier« (er zeigte auf seine Kartentasche) »habe ich die Kopie meines Rapports, den ich gestern an Fürst Karl schickte. Darin prophezeie ich den Russen ein vollständiges Fiasko, und ich bin sicher, Seine Hoheit wird meinen Scharfblick zu würdigen wissen. Ihre

Heerführer sind zu hochmütig und selbstsicher, sie überschätzen ihre Soldaten und unterschätzen die Türken. Und auch uns, die rumänischen Verbündeten. Macht nichts, nach der heutigen Lektion wird der Zar persönlich uns um Hilfe bitten, Sie werden sehen.«

Der Oberst brach sich ein ansehnliches Stück Roquefort ab. Warjas Stimmung war nun endgültig verdorben.

Lucans finstere Vorhersagen trafen ein.

Am Abend standen Warja und Fandorin an der Chaussee nach Plewna. An ihnen vorbei zog eine nicht enden wollende Kette von Fuhrwerken mit Verwundeten. Die Berechnung der Verluste war noch nicht abgeschlossen, aber im Lazarett hieß es, mindestens siebentausend Mann seien ausgefallen. Es wurde erzählt, Sobolew habe sich ausgezeichnet, indem er die türkische Gegenattacke auf sich zog - ohne seine Kosaken wäre die Niederlage noch hundertmal bitterer geworden. Staunen herrschte über die türkischen Artilleristen, die eine teuflische Treffsicherheit demonstriert und mit ihrem Feuer die Kolonnen schon während des Anmarschs dezimiert hatten, noch ehe sich die Bataillone zur Attacke entfalten konnten.

Warja hatte Fandorin das alles wiedergegeben, aber der sagte nichts - entweder wußte er schon alles, oder er war erschüttert, das war nicht zu ergründen.

Die Wagenkolonne stockte - eines der Fuhrwerke hatte ein Rad verloren. Warja, die sich Mühe gab, den Anblick der Verkrüppelten zu meiden, guckte den kaputten Wagen genauer an und schrie auf, denn das Gesicht des verwundeten Offiziers, das in der hellen Sommerdämmerung matt schimmerte, kam ihr bekannt vor. Sie trat näher - richtig, es war Oberst Sablin, einer der ständigen Klubbesucher. Er war bewußtlos, mit einem blutigen Uniformmantel zugedeckt. Sein Körper wirkte sonderbar kurz.

»Ein Bekannter?« fragte der Feldscher, der den Oberst begleitete. »Eine Granate hat ihm beide Beine abgerissen. Kein Glück gehabt.«

Warja wich zurück zu Fandorin und brach in krampfhaftes Schluchzen aus. Sie weinte lange, dann versiegten ihre Tränen, dann wurde es kalt, und noch immer wurden Verwundete vorbeigefahren.

»Lucan wird im Klub für einen Dummkopf gehalten, aber er ist klüger als Krüdener«, sagte Warja, denn sie konnte das Schweigen nicht mehr ertragen.

Fandorin sah sie fragend an, und sie erläuterte: »Er hat mir schon am Morgen gesagt, daß der Sturmangriff mißlingt. Die Disposition sei gut, aber die Feldherren taugten nichts. Die Soldaten auch nicht.«

»Das hat er gesagt?« fragte Fandorin zurück. »So ist das also. Das ändert ...«

Er sprach nicht weiter, zog die Brauen zusammen.

»Was ändert es?«

Schweigen.

»Was ändert es? He?«

Warja wurde zornig. »Eine blöde Manier! Einen Satz anfangen und dann nicht weitersprechen!

Was soll das?«

Sie hätte den Titularrat am liebsten bei den Schultern gepackt und tüchtig durchgeschüttelt. Dieser aufgeblasene, schlecht erzogene Milchbart! Spielt hier den Indianerhäuptling Chingachgook!

»Warwara Andrejewna, das ist Verrat!« sagte Fandorin plötzlich.

»Verrat? Wieso Verrat?«

»Das müssen wir klären. Also.« Fandorin rieb sich die Stirn. »Oberst Lucan, nicht eben eine Geistesgröße, sagt als einziger die Niederlage der russischen Armee voraus. Erstens. Mit der Disposition war er vertraut, er hatte sogar als Vertreter des Fürsten Karl eine Kopie erhalten, zweitens. Der Erfolg der Operation hing von dem verdeckten Manöver hinter den Hügeln ab, drittens.

Unsere Kolonnen wurden von der türkischen Artillerie ohne direkte Sicht nach Planquadraten beschossen, viertens. Was folgt daraus?«

»Die Türken haben vorher gewußt, wann sie wohin schießen müssen«, flüsterte Warja.

»Und Lucan hat vorher gewußt, daß der Angriff scheitern würde. Übrigens, fünftens: Dieser Mann hat in den letzten Tagen von irgendwoher viel Geld bekommen.«

»Er ist reich. Hat irgendwelche Familienschätze, Besitzungen. Das hat er mir erzählt, aber ich habe nicht richtig hingehört.«

»Warwara Andrejewna, der Oberst wollte sich noch vor kurzem dreihundert Rubel von mir borgen, und dann hat er, wenn man Surow glauben kann, in wenigen Tagen an die fünfzehntausend verpulvert. Na ja, Surow kann auch geschwindelt haben.«