Als um halb elf die vergoldete Tür aufging und der Nachfahr des römischen Legaten angetrunken hereinkam, freute sich Warja, als wäre er ein Angehöriger, sprang auf und winkte mit ungespielter Herzlichkeit.
Es gab freilich eine unvorhergesehene Komplikation in Gestalt eines pummeligen braunhaarigen Mädchens, das am Ellbogen des Obersts hing. Die Komplikation blickte Warja mit offener Feindseligkeit an, und Warja wurde verlegen, weil ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, daß Lucan verheiratet sein könne.
Aber der Oberst löste das Problem mit wahrhaft kriegerischer Entschlossenheit - er gab seiner Begleiterin mit flacher Hand einen Klaps auf ihr üppigens Hinterteil, worauf sie etwas Giftiges zischte und sich entrüstet zurückzog. Scheint nicht seine Frau zu sein, dachte Warja und wurde noch verlegener.
»Unser Feldblümchen hat seine Blütenblätter entfaltet und sich als wunderschöne Rose entpuppt!« schmetterte Lucan und stürmte quer durch den Saal auf Warja zu. »Dieses Kleid! Dieser Hut! Mein Gott, bin ich hier auf den Champs Elysees?«
Natürlich war er ein Geck und Plattkopf, und doch war es Warja angenehm. Sie gestattete ihm sogar einen Handkuß, entsagte ihren Prinzipien zum Nutzen der Sache. Dem Iren nickte der Oberst mit lässiger Wohlgeneigtheit zu (der war kein Rivale), dann setzte er sich ungebeten an den Tisch. Warja hatte den Eindruck, daß MacLaughlin sich auch über den Rumänen freute. Ob er es müde war, übers Wetter zu sprechen? Nein, wohl kaum.
Die Kellner trugen die Kaffeekanne und den Kuchen weg, den der sparsame Journalist bestellt hatte, und brachten Wein, Zuckerzeug, Obst und Käse.
»Sie werden Bukarest nie vergessen!« verhieß Lucan. »In dieser Stadt gehört alles mir!«
»Wie meinen Sie das?« fragte der Ire. »Besitzen Sie in der Stadt bedeutende Immobilien?«
Der Rumäne würdigte ihn keiner Antwort.
»Sie können mir gratulieren, Mademoiselle. Mein Rapport ist nach Verdienst gewürdigt worden, und ich darf in nächster Zeit mit Beförderung rechnen.«
»Was für ein Rapport?« fragte der Ire wieder neugierig. »Was für eine Beförderung?«
»Auf eine Beförderung wartet ganz Rumänien«, erklärte der Oberst mit wichtiger Miene. »Jetzt steht fest, daß der russische Imperator die Kräfte seiner Armee überschätzt hat. Ich weiß aus sicherer Quelle«, er senkte vielsagend die Stimme und kitzelte Warja mit seinem gezwirbelten Schnauz die Wange, »daß General Krüdener die Führung der Westgruppe abgeben muß und daß an die Spitze der Truppen, die Plewna belagern, unser Fürst Karl tritt.«
MacLaughlin zückte sein Notizbuch und begann zu schreiben.
»Wie wär's mit einer Spritztour durch das nächtliche Bukarest, Mademoiselle Warwara?« flüsterte ihr Lucan ins Ohr. »Ich zeige Ihnen Sachen, die Sie in Ihrer langweiligen nördlichen Hauptstadt nie gesehen haben. Ich schwöre, Sie werden etwas zum Erinnern haben.«
»Ist das ein Entschluß des russischen Imperators oder nur der Wunsch des Fürsten Karl?« fragte der pedantische Journalist.
»Der Wunsch Seiner Hoheit reicht völlig aus«, antwortete der Oberst scharf. »Ohne Rumänien und seine ruhmreiche Fünfzigtausend-Mann-Armee sind die Russen hilflos. Herr Korrespondent, mein Land hat eine große Zukunft vor sich. Bald, sehr bald wird Fürst Karl König sein. Und meine Wenigkeit«, fügte er, an Warja gewandt, hinzu, »wird eine höchst einflußreiche Person. Vielleicht sogar Senator. Mein erwiesener Scharfblick ist nach Verdienst gewürdigt worden. Also, wie ist es mit der romantischen Spritztour? Ich bestehe darauf.«
»Ich überleg's mir«, versprach sie ausweichend und dachte darüber nach, wie sie das Gespräch in die nötige Richtung lenken könnte.
In diesem Moment erschienen Surow und d'Hevrais, sehr zur Unzeit, was Warjas Auftrag betraf, aber sie freute sich trotzdem: In deren Gegenwart würde Lucan sein Tempo mäßigen müssen.
Der Oberst folgte ihrer Blickrichtung und murmelte mißmutig: »Das >Royal< wird ja zur Absteige! Wir hätten ein Spare nehmen sollen.«
»Guten Abend, die Herren«, begrüßte Warja ihre Bekannten fröhlich. »Bukarest ist eine kleine Stadt, nicht wahr? Der Oberst hat gerade mit seiner Weitsicht geprahlt. Er hat vorausgesagt, daß der Sturmangriff auf Plewna mit einer Niederlage endet.«
»Wirklich?« fragte d'Hevrais und blickte den Oberst aufmerksam an.
»Sie sehen großartig aus, Warwara Andrejewna«, sagte Surow. »Was haben Sie da, Martell? Kellner, Gläser!«
Der Rumäne trank Kognak und maß die beiden mit finsterem Blick.
»Wem haben Sie das vorausgesagt? Und wann?« fragte MacLaughlin gespannt.
»Im Rapport an seinen Monarchen«, erläuterte Warja. »Und jetzt ist der Scharfsinn des Obersts nach Verdienst gewürdigt worden.«
»Bedienen Sie sich, meine Herren, trinken Sie«, lud Lucan mit großer Geste ein und stand ruckartig auf. »Alles geht auf meine Rechnung. Madame Suworowa und ich unternehmen eine Spazierfahrt.
Sie hat es mir versprochen.«
D'Hevrais zog verwundert die Augenbrauen hoch, und Surow rief ungläubig: »Was höre ich da, Warwara Andrejewna? Sie machen mit Lucan eine Spazierfahrt?«
Warja war dicht davor, in Panik zu geraten. Mit Lucan wegfahren bedeutete, ihren Ruf für immer
zu ruinieren, und es war auch ungewiß, wie das enden würde. Eine Weigerung aber würde ihren Auftrag gefährden.
»Ich komme gleich wieder, meine Herren«, sagte sie mit dumpfer Stimme und eilte dem Ausgang zu. Sie mußte ihre Gedanken sammeln.
Im Foyer blieb sie vor dem hohen Spiegel mit dem verschnörkelten Bronzerahmen stehen und legte die Hand auf die glühende Stirn. Was tun? Hinaufgehen ins Zimmer, die Tür verschließen und auf Klopfen nicht reagieren. Verzeih mir, Petja, üben Sie Nachsicht, Herr Titularrat, Warja Suworowa taugt nicht zur Spionin.
Die Tür knarrte warnend, und im Spiegel, direkt hinter ihr, zeigte sich die verärgerte rote Visage des Obersts.
»Verzeihung, Mademoiselle, aber mit Mihai Lucan geht man so nicht um. Sie haben mir in gewisser Weise Avancen gemacht, und jetzt wollen Sie mich öffentlich bloßstellen? Da sind Sie an den Falschen geraten. Hier ist nicht der Presseklub, hier bin ich zu Hause!«
Von der Galanterie des künftigen Senators war keine Spur übriggeblieben. Seine braungelben Augen schleuderten Blitze.
»Kommen Sie, Mademoiselle, die Equipage wartet.« Und auf Warjas Schulter legte sich eine haarige bräunliche Hand mit überraschend starken, wie aus Eisen geschmiedeten Fingern.
»Sie sind von Sinnen, Oberst! Ich bin doch keine Kurtisane!« schrie Warja und sah sich nach allen Seiten um.
Im Foyer waren ziemlich viele Leute, zumeist Herren in leichten Sommerjacketts und rumänische Offiziere. Sie beobachteten neugierig die pikante Szene, aber für die Dame (war es eine Dame?) einzutreten hatten sie wohl nicht vor.
Lucan sagte etwas auf rumänisch, die Zuschauer lachten verständnisvoll.
»Zuviel getrunken, Marussja?« fragte einer auf russisch, und alle lachten noch lauter.
Der Oberst faßte Warja unter und führte sie zum Ausgang, so geschickt, daß Widerstand unmöglich war.
»Unverschämter Kerl!« schrie sie und wollte ihn ins Gesicht schlagen, aber er ergriff ihr Handgelenk. Das näher kommende Gesicht stank nach Schnaps und Eau de Cologne. Gleich muß ich mich übergeben, dachte Warja.
Aber im nächsten Moment lösten sich die Hände des Obersts von selbst. Zuerst klatschte es schallend, dann folgte ein saftiges Knirschen, und Warjas Beleidiger flog gegen die Wand. Seine eine Wange war puterrot von der Ohrfeige, die andere weiß von dem schweren Faustschlag. Zwei Schritte vor ihm standen Schulter an Schulter d'Hevrais und Surow. Der Franzose schüttelte die Finger der rechten Hand, der Rittmeister rieb sich die linke Faust.