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Fandorin sagte dies: »Sie waren lange u-unterwegs, Warwara Andrejewna, haben viel Interessantes versäumt. Gleich nach Ihrem T-telegramm habe ich verfügt, das Zelt und die persönlichen Sachen des Getöteten sorgfältig zu durchsuchen. Es wurde nichts Aufschlußreiches gefunden. Aber vorgestern wurden aus Bukarest die Papiere gebracht, die Lucan bei sich hatte. Und was meinen Sie?«

Warja hob furchtsam den Blick und sah dem Titularrat zum erstenmal ins Gesicht. Mitleid oder gar Verachtung las sie nicht in dessen Augen, nur Konzentration und vielleicht Jagdeifer. Doch die Erleichterung wich sogleich der Scham: Sie hatte getrödelt aus Furcht vor der Rückkehr ins Lager, hatte sich um ihren kostbaren Ruf gesorgt und alles andere darüber vergessen, Egoistin.

»Reden Sie schon!« drängte sie Fandorin, der mit Interesse zusah, wie ein Tränchen über Warjas Wange rollte.

»Bitte v-verzeihen Sie großmütig, daß ich Sie in diese Geschichte hineingezogen habe«, sagte Fandorin schuldbewußt. »Alles hätte ich erwartet, nur d-das ...«

»Was haben Sie in Lucans Papieren gefunden?« fiel Warja ihm ärgerlich ins Wort, denn sie fühlte, wenn das Gespräch nicht sofort eine sachliche Wende nahm, würde sie losheulen.

Ob nun ihr Gesprächspartner diese Möglichkeit erahnte oder ob er das Thema für ausgeschöpft hielt, jedenfalls ging er nicht weiter auf die Bukarester Episode ein.

»Hochinteressante Eintragungen in einem Notizbuch. Da, sehen Sie.«

Er zog ein elegantes Büchlein im Brokateinband aus der Jackentasche und schlug es beim Lesezeichen auf.

Warja überflog eine Zahlen- und Buchstabenkolonne:

19=S -1500

20=S -3400-i

21=J +5000 S-800

22=S -2900

23=J +5000 S-700

24=S -1100

25=J +5000 S-1000

26=S -300

27=J +5000 S-2200

28=S -1900

29=J +15000 S+i

Sie las noch einmal langsamer, dann noch einmal. Gar zu gern hätte sie Scharfsinn gezeigt.

»Eine Chiffre? Nein, die Numerierung geht fortlaufend. Eine Liste? Die Nummern von Regimentern? Die Anzahl von Soldaten? Vielleicht Verluste und Verstärkungen?« Warja zog die Stirn kraus. »Also war Lucan doch ein Spion? Aber was bedeuten die Buchstaben S, J, i? Vielleicht Formeln oder Gleichungen?«

»Sie tun dem Toten zuviel Ehre an, Warwara Andrejewna. Es ist viel einfacher. Wenn das Gleichungen sind, dann sehr anspruchslose. Freilich mit einer Unbekannten.«

»Nur mit einer?« sagte Warja verdutzt.

»Schauen Sie genauer hin. Die erste K-kolonne besteht nur aus Zahlen. Lucan macht dahinter ein Gleichheitszeichen. Neunzehnter bis neunundzwanzigster Juli nach westlichem Stil. Was hat der Oberst an diesen Tagen gemacht?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn nicht beschattet.« Warja überlegte. »Na, im Stab wird er gewesen sein, ist zu den Stellungen geritten.«

»Ich habe den O-oberst kein einziges Mal zu den Stellungen reiten sehen. Eigentlich habe ich ihn immer nur an einem Ort gesehen.«

»Im Klub?«

»Genau. Und was hat er da gemacht?«

»Nichts. Karten gespielt.«

»B-bravo, Warwara Andrejewna.«

Sie blickte noch einmal auf das Blatt.

»Also hat er die Spielergebnisse notiert! Nach dem S ein Minus, nach dem J immer ein Plus. Mit dem S bezeichnet er Verluste, mit dem J Gewinne. Das soll alles sein?« Warja zuckte enttäuscht die Achseln. »Wo ist da die Spionage?«

»Es gab keine. Spionage ist eine hohe Kunst, doch hier haben wir es mit primitiver B-bestechung und Verrat zu tun. Am 19. Juli, dem Tag vor dem ersten Angriff auf Plewna, erschien im Klub der Raufbold Surow, und Lucan vertiefte sich ins Spiel.«

»Also ist S gleich Surow?« rief Warja. »Warten Sie« Sie blickte auf die Ziffern und flüsterte: »Neunundvierzig ... sieben im Sinn ... Hundertvier ...« Sie addierte. »Insgesamt hat er 15800 an Surow verloren. Das scheint zu stimmen, Surow hat auch von fünfzehntausend gesprochen. Aber was bedeutet das i?«

»Ich v-vermute, das ist der berüchtigte Ring, auf rumänisch inel. Am 20. Juli hat Lucan ihn verspielt, am 29. zurückgewonnen.«

»Aber wer ist J?« Warja rieb sich die Stirn. »Unter den Spielern war doch wohl keiner, der mit J anfängt. Von dem hat Lucan gewonnen ... hm ... Oho! Fünfunddreißigtausend! An so große Gewinne kann ich mich nicht erinnern. Damit hätte er auch bestimmt geprahlt.«

»Es gab nichts zum Prahlen. Das ist kein Gewinn, sondern das Honorar für Verrat. Zum erstenmal hat der geheimnisvolle J dem Oberst am 21. Juli Geld gegeben, nachdem der gegen Surow mit Pauken und Trompeten verloren hatte. Des weiteren bekam der Verstorbene von seinem unbekannten Gönner je f-fünftausend am 23., am 25. und am 27., das heißt, jeden zweiten Tag. Dadurch konnte er weiter gegen Surow spielen. Am 29. erhielt Lucan mit einem Schlag fünfzehntausend. Fragt sich, warum so v-viel und warum gerade am 29.?«

»Er hat die Disposition vom zweiten Angriff auf Plewna verraten!« flüsterte Warja. »Der verhängnisvolle Sturmangriff war am 30. Juli, am nächsten Tag!«

»Nochmals bravo. Da haben Sie das Geheimnis von Lucans Scharfsicht und von der Treffgenauigkeit der türkischen Artilleristen, die unsre Kolonnen schon auf dem Anmarsch zusammenschossen.«

»Aber wer ist J? Haben Sie denn niemanden im Verdacht?«

»Doch doch«, brummte Fandorin kaum verständlich. »Aber noch fügt sich nicht alles zusammen.«

»Also müssen wir nur noch diesen J finden, dann kommt Petja frei, Plewna wird genommen, und der Krieg ist zu Ende?«

Fandorin überlegte, zog die glatte Stirn in Falten und antwortete ernsthaft: »Ihre logische Kette ist nicht ganz k-korrekt, aber im Prinzip richtig.«

In den Presseklub traute sich Warja an diesem Abend nicht. Sicherlich würden ihr alle die Schuld an Lucans Tod geben (sie wußten ja nichts von dem Verrat) und an der Ausweisung des allgemein beliebten d'Hevrais. Der Franzose war nicht aus Bukarest ins Lager zurückgekehrt. Fandorin wußte zu erzählen, daß der Duellant in Arrest genommen und aufgefordert worden war, das Gebiet des

rumänischen Fürstentums binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

In der Hoffnung, Surow oder wenigstens MacLaughlin zu treffen und von ihnen zu erfahren, wie streng die öffentliche Meinung mit ihr, der Verbrecherin, ins Gericht ging, spazierte die arme Warja in hundert Schritten Abstand um das Zelt herum, das mit bunten Fähnchen geschmückt war. In ihr Zelt zurückzukehren hatte sie absolut keine Lust. Die Krankenschwestern, herzensgute, doch unbedarfte Geschöpfe, würden doch nur wieder erörtern, wer von den Ärzten ein feiner Kerl und wer ein Schuft sei und ob der einarmige Oberleutnant Strumpf aus Zelt sechzehn es ernst gemeint habe, als er Nastja Prjanischnikowa einen Heiratsantrag machte.

Der Zeltvorhang bewegte sich, Warja erblickte eine stämmige Gestalt in blauer Gendarmenmontur, wandte sich eilig ab und tat, als wäre sie in den Anblick des Dörfchens Bohot versunken, in dem der Stab des Oberbefehlshabers Quartier genommen hatte. Wo, dachte sie, ist da die Gerechtigkeit? Der schäbige Intrigant und Geheimschnüffler Kasansaki geht einfach in den Klub, während sie, eigentlich doch das unschuldige Opfer von widrigen Umständen, sich auf der staubigen Straße herumdrücken muß wie ein Hofhund! Warja schüttelte entrüstet den Kopf und war fest entschlossen, in ihr Zelt zu gehen, doch da ertönte von hinten die einschmeichelnde Stimme des verhaßten Griechen: »Frau Suworowa, welch angenehme Begegnung!«

Warja drehte sich um und schnitt eine Grimasse, überzeugt, auf die ungewohnte Liebenswürdigkeit des Oberstleutnants werde alsbald ein Schlangenbiß folgen.

Kasansaki sah sie an, die dicken Lippen zu einem Lächeln verzogen, und sein Blick war fast schmeichlerisch.