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Kurz und gut, Stagnation und Langeweile.

Am 30. August wurde Warja in aller Frühe von einem ungeheuren Dröhnen geweckt. Die erste Kanonade hatte begonnen. Am Vorabend hatte Fandorin ihr erklärt, außer der üblichen Artillerievorbereitung werde diesmal eine psychologische Methode angewendet - ein neues Wort in der Kriegskunst. Mit dem ersten Sonnenstrahl, als es für die Gläubigen Zeit war, ihr Namas-Gebet zu verrichten, eröffneten dreihundert russische und rumänische Geschütze ein orkanartiges Feuer auf die türkischen Befestigungen. Punkt neun wurde die Kanonade eingestellt. Osman Pascha schickte in Erwartung der Attacke frische Truppen nach vorn, aber nichts geschah: Die Verbündeten rührten sich nicht vom Fleck, und über den Weiten um Plewna herrschte Stille. Punkt elf Uhr brach ein neuer Feuerschlag über die staunenden Türken herein, er dauerte bis eins. Wieder Stille. Der Gegner barg die Verwundeten und Gefallenen, flickte eilig die Zerstörungen, rollte neue Geschütze heran, doch der Angriff ließ noch immer auf sich warten. Bei den Türken, die sich nicht durch Nervenstärke auszeichneten und bekanntlich zu kurzzeitigen Energieleistungen fähig waren, nicht aber zu längeren Anstrengungen, machte sich Verwirrung, vielleicht gar Panik breit. In der vordersten Linie war sicherlich die gesamte moslemische Führung versammelt, guckte durch Feldstecher und begriff nichts. Und da, um vierzehn Uhr dreißig, rollte die dritte Welle der Kanonade los, und nach einer weiteren halben Stunde sahen die vom Warten zermürbten Türken die Sturmkolonnen auf sich zu kommen.

Warja versetzte sich in die Lage der unglücklichen Verteidiger von Plewna und bekam eine

Gänsehaut. Das war ja furchtbar - eine, zwei, drei Stunden auf die entscheidenden Ereignisse zu warten, und ganz umsonst. Sie würde es gewiß nicht ausgehalten haben. Pfiffig ausgedacht, das war den Stabsgenies nicht abzusprechen.

Wumm-wumm! Wumm-wumm! machten die schweren Belagerungsgeschütze. Wum-wum, wum! echoten etwas schwächer die Feldgeschütze. Das dauert noch, dachte Warja, man müßte was frühstücken.

Die Journalisten, nicht eingeweiht in den listigen Plan der Artillerievorbereitung, waren noch bei Dunkelheit zu den Stellungen gefahren. Der Standort der Beobachtungsstelle für die Korrespondenten war vorher mit der militärischen Führung abgesprochen worden. Nach langen Diskussionen hatten die Journalisten beschlossen, die Genehmigung für eine Anhöhe zu erbitten, die zwischen Griwiza, dem Zentrum der Stellung, und der Chaussee nach Lowetsch lag, hinter der sich die linke Flanke hinzog. Anfangs hatten die meisten Journalisten näher zur rechten Flanke gewollt, weil der Hauptschlag offenbar von hier aus geführt werden sollte, aber MacLaughlin und d'Hevrais hatten ihre Kollegen umgestimmt. Ihr stärkstes Argument: Die linke Flanke mochte durchaus zweitrangig sein, aber dort hielt sich Sobolew auf, also waren Sensationen zu erwarten.

Nachdem Warja mit den blassen, bei jedem Schuß zusammenzuckenden Krankenschwestern gefrühstückt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Fandorin. Im Stab war der Titularrat nicht, auch nicht in der Sonderabteilung. Für alle Fälle warf Warja einen Blick in sein Zelt, da saß er seelenruhig in seinem Klappsessel, mit dem Saffianpantoffel wippend, ein Buch in der Hand, und trank Kaffee.

»Wann fahren Sie zur Stellung?« fragte Warja und setzte sich auf das Bett, denn eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht.

Fandorin zuckte die Achseln. Sein Gesicht zeigte frische Röte. Das Lagerleben schien ihm gut zu bekommen.

»Wollen Sie etwa den ganzen Tag hier sitzen? D'Hevrais hat gesagt, die heutige Schlacht sei der größte Sturmangriff auf eine befestigte Stellung in der ganzen Weltgeschichte. Grandioser als die Einnahme von Malachow Kurgan, dem Hauptfort von Sewastopol.«

»Ihr d'Hevrais l-lügt immer was dazu«, antwortete der Titularrat. »Waterloo und Borodino waren gewaltiger, ganz zu schweigen von der Völkerschlacht bei Leipzig.«

»Sie sind ein Ungeheuer! Das Schicksal Rußlands entscheidet sich, Tausende Menschen sterben, und er sitzt da und liest ein Buch! Das ist ja geradezu unsittlich!«

»Aus sicherer Entfernung zusehen, wie Menschen einander u-umbringen, das ist sittlich, was?« In Fandorins Stimme klang - o Wunder - ein menschliches Gefühclass="underline" Gereiztheit. »Ergebensten D-dank, das Schauspiel habe ich schon beobachtet und sogar daran teilgenommen. Es hat mir nicht g-gefallen. Da bleibe ich lieber bei meinem Tacitus.« Er steckte die Nase demonstrativ in das Buch.

Warja sprang auf, stampfte mit dem Fuß und wandte sich dem Ausgang zu, da sagte Fandorin: »Seien Sie dort vorsichtig, ja? Rühren Sie sich nicht von der Beobachtungsstelle. Sonst passiert noch was.«

Sie blieb stehen und sah Fandorin verwundert an.

»Sie machen sich Sorgen?«

»W-wirklich, Warwara Andrejewna, was wollen Sie da? Zuerst wird lange mit Kanonen geschossen, dann stürmen die Soldaten los, Rauchwolken steigen auf, Sie sehen nichts, hören nur, wie die einen >hurra< und die anderen vor Schmerz schreien. Sehr interessant. Ihre und meine Arbeit ist nicht dort, sondern hier, im H-hinterland.«

»Etappenhocker.« Dieses passende Wort fiel ihr im richtigen Moment ein, und sie ließ den Misanthropen mit seinem Tacitus allein.

Die Anhöhe, auf der sich die Presseleute und die Militärbeobachter aus den neutralen Ländern niedergelassen hatten, war leicht zu finden, Warja sah schon von der mit Munitionswagen verstopften Straße aus das weiße Tuch, das vom Wind schwach bewegt wurde. Dort hatten sich an die hundert Personen versammelt, wenn nicht mehr.

Der Straßenordner, ein vom Schreien heiserer Hauptmann mit roter Armbinde, sorgte dafür, daß die Geschosse an die richtige Stelle der vordersten Linie gelangten. Er lächelte dem hübschen Fräulein mit dem Spitzenhütchen zu und winkte.

»Dort lang, Mademoiselle. Aber biegen Sie nirgends ab. Auf die weiße Fahne schießt die feindliche Artillerie nicht, doch überall sonst kann schon mal ein Granätchen einschlagen. Wo willst du denn hin, du Dorftrottel? Ich hab doch gesagt, die Vierpfünder zur Sechsten!«

Warja trieb ihren friedlichen Goldfuchs an, den sie aus dem Pferdestall des Lazaretts entliehen hatte, und ritt auf die weiße Fahne zu, wobei sie neugierig Umschau hielt.

Das ganze Tal vor der flachen Hügelkette, hinter der das Vorfeld von Plewna begann, war von seltsamen Inselchen gesprenkelt - Infanteriekompanien, die sich im Gras niedergelassen hatten und auf den Angriffsbefehl warteten. Die Soldaten unterhielten sich halblaut, von Zeit zu Zeit erschallte bald da, bald dort ein unnatürlich lautes Gelächter. Die Offiziere standen in kleinen Grüppchen beisammen und rauchten Papirossy. Die heranreitende Amazone Warja wurde von ihnen verwundert und ungläubig beäugt wie ein Wesen aus einer anderen, unwirklichen Welt. Der Anblick des wimmelnden, summenden Tals stimmte Warja ängstlich. Sie sah deutlich über dem staubigen Gras den Todesengel kreisen, der Ausschau hielt und Gesichtern sein unsichtbares Siegel aufdrückte.

Warja stieß dem Pferd die Ferse in die Flanke, um schneller an diesem grausligen Wartesaal vorbeizukommen.

Dafür waren an der Beobachtungsstelle alle voll lebhafter Vorfreude. Es herrschte Picknickatmosphäre, auf der Erde waren weiße Tischtücher ausgebreitet, und man speiste mit Appetit.

»Ich dachte schon, Sie kommen nicht!« begrüßte d'Hevrais sie, der ebenso aufgedreht war wie die anderen. Warja vermerkte, daß er seine berühmten verfärbten Uraltstiefel angezogen hatte.

»Wir stehen hier seit dem Morgengrauen herum wie die Idioten, und die russischen Offiziere kommen erst gegen Mittag. Herr Kasansaki hat sich vor einer Viertelstunde herbemüht, und von ihm haben wir erfahren, daß der Sturmangriff erst um drei losgeht«, schnatterte der Journalist vergnügt. »Ich sehe, Sie haben die Disposition auch schon vorher gekannt. Das ist nicht schön, Mademoiselle Barbara, Sie hätten mir ja auch einen freundschaftlichen Tip geben können. Ich bin schon um vier aufgestanden, und das ist für mich schlimmer als der Tod.«