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Der Franzose half dem Fräulein aus dem Sattel, bot ihr einen Klappstuhl an und erklärte: »Da drüben auf den gegenüberliegenden Höhen sind die befestigten Stellungen der Türken. Sehen Sie die Explosionswolken? Das ist das Zentrum ihrer Stellung. Parallel dazu verläuft die fünfzehn Kilometer lange Linie der russisch-rumänischen Armee, wir können von hier aus nur einen Teil dieses gewaltigen Raums überschauen. Beachten Sie den runden Hügel, nein, nicht den, da wo das weiße Zelt ist. Das ist das zeitweilige Hauptquartier. Dort sind der Befehlshaber der Westgruppe Fürst Karl von Rumänien, der Oberbefehlshaber Großfürst Nikolai und Imperator Alexander persönlich. Oh, die Leuchtkugeln! Ein malerisches Schauspiel, nicht wahr?«

Über dem menschenleeren Feld, das die feindlichen Seiten trennte, zeichneten Rauchstreifen steile Bögen - als hätte jemand das Himmelsgewölbe in Scheiben geschnitten wie eine Melone oder einen Brotlaib. Warja legte den Kopf in den Nacken und sah hoch droben drei bunte Bälle, den einen nahe, den zweiten weiter weg, über dem Hauptquartier, und den dritten über dem Horizont.

»Das sind Luftballons, Warwara Andrejewna«, sagte der herzugetretene Kasansaki. »Mit ihnen und mit Signalfähnchen wird das Artilleriefeuer korrigiert.«

Der Gendarm war noch unangenehmer anzusehen als sonst. Er ließ erregt die Finger knacken, seine Nüstern blähten sich nervös. Der Vampir hatte Menschenblut gewittert. Warja trug ihren Stuhl demonstrativ ein Stück weiter, doch der Oberstleutnant übersah ihr Manöver. Er trat wieder zu ihr und zeigte dahin, wo es hinter den flachen Hügeln besonders heftig krachte.

»Unser gemeinsamer Bekannter Sobolew leistet sich wieder mal ein tolles Stück. Laut Disposition besteht seine Rolle darin, gegen die Krischin-Redoute einen Scheinangriff zu führen, während die Hauptkräfte den Schlag im Zentrum führen. Aber unser Ehrgeizling konnte sich nicht zügeln. Entgegen dem Plan hat er sich schon am Morgen auf einen Frontalangriff eingelassen. Nicht genug, daß er sich von den Hauptkräften gelöst hat und durch die türkische Reiterei abgeschnitten wurde, gefährdet er die ganze Operation! Na, der wird was auf die Nase kriegen!«

Kasansaki zog eine goldene Uhr aus der Tasche, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich.

»Drei Uhr! Jetzt geht's los!«

Warja drehte sich um und sah, wie das ganze Tal in Bewegung geriet: Die Inselchen der weißen Feldblusen wogten, bewegten sich rasch zur vordersten Linie. An der Anhöhe vorbei liefen blasse Männer, vorneweg, humpelnd, ein älterer Offizier mit langem Schnauzbart.

»Nicht zurückbleiben, das Bajonett höher!« schrie er durchdringend und blickte zurück. »Semenzow, paß mir auf! Ich reiß dir die Rübe ab!«

Schon gingen andere Kompanien vorbei, doch Warjas Blick folgte noch immer jener ersten mit dem älteren Kommandeur und dem unbekannten Semenzow.

Die Kompanie entfaltete sich zur Linie und lief langsam auf die ferne Redoute zu, wo immer dichter Erdfontänen aufsprangen.

»Na, jetzt gibt er's ihnen«, sagte jemand neben Warja.

Fern auf dem Feld krepierten schon Granaten, der über die Erde kriechende Rauch versperrte die Sicht, aber Warjas Kompanie lief immer weiter, sie wurde offenbar nicht beschossen.

»Los, Semenzow, los«, flüsterte Warja und ballte die Fäuste.

Bald war »ihre« Kompanie nicht mehr auszumachen. Als der freie Raum vor der Redoute bis zur Mitte mit weißen Feldblusen gefüllt war, fetzten Detonationen mitten in die Menschenmasse hinein, wieder und immer wieder.

»Die harken gründlich«, hörte Warja. »Die Artillerievorbereitung hat nichts gebracht! Statt sich mit der blöden Psychologie dickezutun, hätte man lieber pausenlos draufhämmern sollen.«

»Sie laufen! Sie fliehen!« Kasansaki packte Warja an der Schulter und preßte sie heftig.

Sie warf ihm von unten einen bösen Blick zu, begriff aber, daß der Mann außer sich war. Sie riß sich los und sah aufs Feld. Es war in einen Rauchschleier gehüllt, in dem weiße Feldblusen schimmerten und schwarze Erdklumpen hochflogen.

Auf dem Hügel war es still geworden. Aus dem graublauen Dunst kam schweigend die Menge gelaufen, umfloß die Beobachtungsstelle auf beiden Seiten. Warja sah rote Flecke auf den Feldblusen und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Der Qualm wurde etwas dünner. Jetzt war das Tal wieder zu sehen, übersät mit schwarzen Granattrichtern und weißen Punkten, Feldblusen. Warja blickte genauer hin und bemerkte, daß die hellen Punkte sich bewegten, und sie hörte ein dumpfes Heulen, das aus der Erde selbst zu kommen schien - das Geschützfeuer war eingestellt worden.

»Die erste Kraftprobe ist beendet«, sagte der Major, den der Hauptstab den Presseleuten beigegeben hatte. »Osman hat sich verschanzt, er wird uns noch zu schaffen machen. Gleich gibt es eine neue Artillerievorbereitung und dann wieder >hurra-hurra<.«

Warja wurde schlecht.

NEUNTES KAPITEL,

in welchem Fandorin von seinem Vorgesetzten einen Rüffel bekommt

»Russkje Wedomosti« (Sankt Petersburg) vom 31. August (12. September) 1877

»Der tapfere Jüngling, eingedenk der väterlichen Lehren seines heißgeliebten Kommandeurs, rief: >Ich werde sterben, Michail Dmitrijewitsch, aber die Meldung bring ich hin!< Der neunzehnjährige Held schwang sich auf seinen Don-Renner und sprengte durch das von bleiernen Winden durchtoste Tal, wo sich die Baschi-Bosuks versteckt hielten. Er mußte die Hauptkräfte der Armee erreichen. Die Kugeln umpfiffen den Kopf des Reiters, doch er gab seinem feurigen Pferd die Sporen und flüsterte: >Schneller! Schneller! Von mir hängt der Ausgang der Schlacht ab!<

Aber das böse Verhängnis war stärker als die Tapferkeit. Aus einem Hinterhalt knallten Schüsse, und der mutige Kurier stürzte zu Boden. Blutüberströmt sprang er auf und ging mit der blanken Klinge auf einen Muselman los, aber schon fielen wie schwarze Raubvögel die grimmen Feinde über ihn her, warfen ihn nieder und hackten mit ihren Säbeln noch lange auf den leblosen Körper ein.

So starb Sergej Berestschagin, der Bruder des berühmten Malers.

So verwelkte ein vielversprechendes Talent, dem nicht beschieden war, zu voller Kraft zu erblühen.

So fiel der dritte Kurier, den Sobolew zum Imperator schickte.«

In der achten Abendstunde war sie wieder an der bekannten Weggabelung, aber statt des heiseren Hauptmanns kommandierte dort ein ebenso heiserer Oberleutnant, der es noch schwerer hatte als sein Vorgänger, weil er jetzt zwei gegenläufige Ströme lenken mußte: Zur vordersten Linie strebten noch immer Munitionswagen, und vom Feld wurden Verwundete gebracht.

Nach der ersten Attacke war Warja kleinmütig geworden, sie hatte begriffen, ein zweites Mal würde sie ein solches Schauspiel nicht ertragen. Sie ritt nach hinten und weinte unterwegs, zumal kein Bekannter in der Nähe war. Aber ins Lager wollte sie nicht, denn sie schämte sich.

Mimose, Nervenbündel, schwaches Geschlecht, schalt sie sich. Du hast doch gewußt, daß du in den Krieg fährst und nicht nach Pawlowskoje zum Tanzen. Außerdem wollte sie unbedingt vermeiden, dem Titularrat das Vergnügen zu machen, daß er schon wieder recht gehabt hatte.

Sie kehrte um.

Sie ritt im Schritt, und ihr Herz krampfte sich wehmütig zusammen bei dem näher kommenden Gefechtslärm. Im Zentrum war das Gewehrfeuer fast verstummt, dort wummerten nur Geschütze, dafür drangen von der Lowetscher Chaussee her, wo die abgeschnittene Abteilung Sobolews focht, unaufhörlich Salven herüber wie auch das Gebrüll vieler Stimmen, gedämpft durch die große Entfernung. Um den General schien es nicht gut zu stehen.