Und ihr fiel etwas ein, wenn es auch etwas dauerte. Ihre Versuche, als Krankenschwester in einem provisorischen Militärhospital oder in einem Feldlazarett zu arbeiten, schlugen fehl, da ihre unbeendeten Geburtshilfekurse nicht anerkannt wurden. Telegraphistinnen durften nicht zur kämpfenden Armee. Warja wollte fast verzweifeln, da kam aus Rumänien ein Brief: Petja klagte, daß sie ihn wegen seiner Plattfüße nicht zur Infanterie genommen hätten. Statt dessen sei er dem Stab des Oberbefehlshabers Großfürst Nikolai Nikolajewitsch überstellt worden, seiner mathematischen Kenntnisse halber, denn es wurden dringlichst Chiffrierer gebraucht.
Nun, beim Hauptquartier irgendeine Anstellung zu finden oder schlimmstenfalls im rückwärtigen Gewimmel unterzutauchen, das dürfte nicht schwer sein, befand Warja und schmiedete ungesäumt den Plan, der auch in den beiden ersten Etappen wunderbar funktioniert, in der dritten jedoch mit der Katastrophe geendet hatte.
Inzwischen rückte die Lösung näher. Der violettnasige Wirt knurrte etwas Drohendes, wischte die Hände an einem grauen Handtuch ab und kam watschelnd auf Warja zu, in seinem roten Hemd anzusehen wie ein Scharfrichter, der sich dem Richtblock nähert. Ihr wurde trocken im Mund und ein bißchen übel. Ob sie sich taubstumm stellte?
Der Melancholische, der mit dem Rücken zu ihr saß, stand gemächlich auf, trat zu Warjas Tisch und setzte sich wortlos ihr gegenüber. Sie sah ein blasses und trotz der angegrauten Schläfen sehr junges, fast knabenhaftes Gesicht mit kalten hellblauen Augen, einem schmalen Schnurrbärtchen und einem strengen Mund. Der Mann hatte keine Ähnlichkeit mit den übrigen Bauern, obwohl er wie sie gekleidet war, nur daß die Weste ein bißchen neuer und das Hemd ein bißchen sauberer war.
Den sich nähernden Wirt würdigte der Blauäugige keines Blicks, er machte nur eine geringschätzige Handbewegeng, worauf der drohende Scharfrichter hinter die Theke retirierte. Warja wurde davon nicht leichter. Im Gegenteil, sie machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
Sie krauste die Stirn, gewärtig, auf fremdländisch angesprochen zu werden. Lieber nicht reden, sondern nur nicken und den Kopf schütteln. Dabei durfte sie nicht vergessen, daß es bei den Bulgaren umgekehrt war: Nicken bedeutete »nein«, Kopfschütteln »ja«.
Aber der Blauäugige stellte keine Fragen. Er seufzte bedrückt und sagte, ein wenig stotternd, in reinem Russisch: »A-ach, M-mademoiselle, Sie hätten zu Hause auf Ihren Bräutigam warten sollen. Das hier ist kein R-roman von Maine Reid. Es hätte ü-übel ausgehen können.«
ZWEITES KAPITEL,
in welchem viele interessante Männer auftauchen
»Der russische Invalide« (Sankt Petersburg) vom 2. (14.) Juli 1877
»Nach dem Waffenstillstand zwischen der Pforte und Serbien sind viele Patrioten der slawischen Sache, ruhmreiche Recken der russischen Erde, die als Freiwillige unter dem Befehl des kühnen Generals Tschernjajewgedient hatten, dem Ruf des Befreierzaren gefolgt, sie kämpfen sich über wilde Berge und durch düstere Wälder vor ins bulgarische Land, um sich mit dem rechtgläubigen Heer zu vereinigen und ihre heilige Ruhmestat mit dem langersehnten Sieg zu krönen.«
Der Sinn des Gesagten erreichte Warja nicht sofort. Dem Trägheitsgesetz folgend, nickte sie zunächst, schüttelte dann den Kopf und sperrte erst danach verdattert den Mund auf.
»Wundern Sie sich nicht«, sagte der sonderbare Bauer mit matter Stimme. »Daß Sie eine F-frau sind, sieht man gleich - unter der Mütze guckt eine Strähne hervor. Erstens.« (Warja schob die verräterische Locke verstohlen zurück.) »Daß Sie Russin sind, ist auch offensichtlich: Stupsnase, russisch geformte Jochbögen, dunkelblondes Haar und vor a-allem kein bißchen Bräune. Zweitens. Das mit dem Bräutigam ist auch einfach: W-wer sich heimlich durchschleicht, muß private Interessen haben. Und was kann eine junge Frau in Ihrem Alter für private Interessen bei der kämpfenden Armee haben? Nur romantische. Drittens. Und jetzt v-viertens: Der Schnauzbart, der Sie hergebracht hat und dann verschwunden ist, war das Ihr Fuhrmann? Und das Geld hatten Sie natürlich in Ihren Sachen versteckt? D-dumm. Alles Notwendige muß man bei sich tragen. Wie heißen Sie?«
»Warja Suworowa, Warwara Andrejewna«, flüsterte sie erschrocken. »Und Sie? Wo kommen Sie her?«
»Ich bin Erast Petrowitsch Fandorin. Kriegsfreiwilliger aus Serbien. Und ich komme aus t-türkischer Gefangenschaft.«
Gott sei Dank! Warja hatte schon fast an eine Halluzination geglaubt. Ein Kriegsfreiwilliger aus Serbien! Aus türkischer Gefangenschaft! Sie warf einen respektvollen Blick auf seine angegrauten Schläfen, dann fragte sie - und zeigte taktlos mit dem Finger auf die Schläfen: »Man hat Sie dort gefoltert, ja? Ich habe von den Greueln der türkischen Gefangenschaft gelesen. Das Stottern kommt bestimmt auch davon.«
Fandorin runzelte die Stirn und antwortete unwillig: »Niemand hat mich gefoltert. Man hat mich von früh bis spät mit Kaffee traktiert und ausschließlich französisch mit mir gesprochen. Ich war G- gast des Kaimakams von Widin.«
»Widin?«
»Ja, das ist eine Stadt an der rumänischen Grenze. Und Kaimakam bedeutet Gouverneur. Was das Sch-stottern betrifft, so ist es die Folge einer früheren Kontusion.«
»Sie sind geflohen, ja?« fragte sie neidisch. »Und wollen zur Armee, um zu kämpfen?«
»Nein. Ich habe genug gekämpft.«
Warja mußte wohl entgeistert geguckt haben. Fandorin hielt es jedenfalls für angezeigt hinzuzufügen: »Der Krieg, Warwara Andrejewna, ist eine entsetzliche Schweinerei. Da ist keiner im Recht oder Unrecht. Gute und Böse gibt es auf beiden Seiten. Nur daß die Guten gewöhnlich als erste draufgehen.«
»Warum sind Sie dann freiwillig nach Serbien gegangen?« fragte sie heftig. »Es hat Sie doch wohl niemand gezwungen?«
»Aus egoistischen Erwägungen. Ich war krank und mußte mich kurieren.«
»Kann man sich im Krieg kurieren?« fragte Warja verwundert.
»Ja. Der Anblick fremden L-leids macht das eigene erträglicher. Ich kam an die Front zwei Wochen nach der Zerschlagung der Tschernjajew-Armee. Danach bin ich noch durch die Berge gestreift und habe herumgeballert. Gottlob habe ich wohl n-niemanden getroffen.«
Er will sich interessant machen, oder er ist ein Zyniker, dachte Warja gereizt und sagte giftig: »Wären Sie doch bei Ihrem Kaimakam geblieben. Warum sind Sie geflohen?«
»Ich bin nicht geflohen. Jussuf Pascha hat mich gehen lassen.«
»Und was führt Sie nach Bulgarien?«
»Ich habe etwas zu erledigen«, antwortete er kurz. »Wo wollen Sie eigentlich hin?«
»Nach Zarewizy, zum Stab des Oberbefehlshabers. Und Sie?«
»Nach Bela. Dort soll das Hauptquartier Seiner M-majestät sein.« Der Freiwillige verstummte, bewegte mißmutig die dünnen Brauen, holte tief Luft. »Aber ich kann auch zum Oberbefehlshaber gehen.«
»Wirklich?« rief Warja erfreut. »Oh, lassen Sie uns zusammen gehen, ja? Ich weiß überhaupt nicht, was ich täte, wenn ich Sie nicht getroffen hätte.«
»W-was schon. Sie hätten sich vom Wirt zur nächsten russischen Truppe bringen lassen, und fertig.«