Warja fuhr zusammen - aus den Büschen kam, schlammbespritzt, MacLaughlin geritten. Der Hut war ihm zur Seite gerutscht, sein Gesicht war rot, von der Stirn rann Schweiß.
»Wie sieht's dort aus? Wie stehen die Dinge?« fragte Warja und griff nach dem Zügel seines Pferdes.
»Ich glaube, gut«, antwortete der Ire und wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht. »Uff, ich bin ins Gestrüpp geraten und nur mühsam wieder rausgekommen.«
»Gut steht's? Sind die Redouten genommen?«
»Nein, im Zentrum halten sich die Türken, aber vor zwanzig Minuten kam Graf Surow an unserer
Beobachtungsstelle vorbeigaloppiert. Er hatte es sehr eilig zum Hauptquartier und rief nur: >Sieg! Wir sind in Plewna! Keine Zeit, meine Herren, eine Eilmeldung!< Monsieur Kasansaki ist ihm gleich hinterhergeritten. Er ist ja sehr ehrgeizig und will dabei sein, wenn die gute Nachricht überbracht wird, vielleicht fällt auch für ihn was ab.« MacLaughlin schüttelte mißbilligend den Kopf. »Na, und die Herren Journalisten stoben sofort auseinander, für solche Fälle hat ja jeder einen guten Freund unter den Telegraphisten. Ich versichere Ihnen, in diesem Moment fliegen schon die ersten Telegramme über die Einnahme von Plewna in die Redaktionen.«
»Und Sie?«
Der Korrespondent antwortete würdevolclass="underline" »Ich habe es nie so eilig, Mademoiselle Suworowa. Zuerst muß ich alle Einzelheiten herausfinden. Statt einer kurzen Meldung schicke ich einen ganzen Artikel, und der kommt in die Morgenausgabe, genau wie die Telegramme der anderen.«
»Ich kann also ins Lager zurückkehren?« fragte Warja erleichtert.
»Ich glaube schon. Im Stab erfahren wir mehr als hier in der Savanne. Außerdem wird es gleich dunkel.«
Aber im Stab wußte man nichts Genaues, denn vom Hauptquartier war keine Meldung über die Einnahme von Plewna gekommen, im Gegenteil, wie sich herausstellte, war der Angriff in allen wichtigen Punkten gescheitert, und die Verluste waren astronomisch hoch, mindestens zwanzigtausend Mann. Der Imperator war ganz niedergeschlagen, erzählte man, und auf die Frage nach Sobolews Erfolg wurde nur abgewinkt: Wie hätte der mit seinen zwei Brigaden Plewna nehmen sollen, wenn sechzig Bataillone im Zentrum und auf der rechten Flanke nicht einmal die erste Linie der Redouten hatten besetzen können?
Eine dumme Situation. MacLaughlin triumphierte, zufrieden mit seiner Umsicht, und Warja war wütend auf Surow: dieser Prahlhans und Lügenbold, er hatte sonst was erzählt und alle in die Irre geführt.
Die Nacht brach an, die Generäle kehrten mürrisch in den Stab zurück. Warja sah den Oberbefehlshaber Nikolai Nikolajewitsch, umgeben von Adjutanten, das Häuschen der Operationsabteilung betreten. Sein vom dichten Backenbart umrahmtes Pferdegesicht zuckte.
Alle tuschelten über die riesigen Verluste, es war wohl ein Viertel der Armee gefallen, aber laut sprach man nur vom Heldenmut der Soldaten und Offiziere. Heldenmut hatten viele gezeigt, namentlich die Offiziere.
In der ersten Stunde kam Fandorin zu Warja.
»Kommen Sie, Warwara Andrejewna. Wir sind zur Führung bestellt.«
»Wir?« fragte sie verwundert.
»Ja. Die ganze Sonderabteilung, auch Sie und ich.« Schnellen Schritts gingen sie zu der Lehmhütte, in der die Dienststelle von Oberstleutnant Kasansaki untergebracht war.
In dem bekannten Zimmer waren die Offiziere und Mitarbeiter der Sonderabteilung der Westgruppe versammelt, nur der Vorgesetzte fehlte.
Am Tisch saß mit drohender Miene General Lawrenti Misinow.
»Ah, der Herr Titularrat und sein Fräulein Sekretärin geben uns die Ehre«, sagte er giftig. »Na wunderbar, jetzt müssen wir nur noch auf den Herrn Oberst warten, dann können wir anfangen. Wo ist Kasansaki?« blaffte der General.
»Es hat ihn am Abend noch niemand gesehen«, antwortete zaghaft der ranghöchste Offizier.
»Großartig. Schöne Geheimnishüter.«
Misinow sprang auf und stampfte durchs Zimmer.
»Das ist keine Armee, sondern ein Wanderzirkus! Wen man auch sucht, er ist nicht da.
Verschwunden! Spurlos!«
»Hohe Exzellenz sprechen in R-rätseln. Worum geht es?« fragte Fandorin halblaut.
»Ich weiß es nicht, Erast Petrowitsch, ich weiß es nicht!« schrie Misinow. »Ich hatte gehofft, Sie und Herr Kasansaki würden es mir erklären.« Er verstummte, bezwang sich mühsam und fuhr ruhiger fort: »Nun gut. Wir warten nicht länger. Ich komme eben vom Imperator. Habe einer höchst interessanten Szene beigewohnt: Der General Sobolew vom Gefolge Seiner Kaiserlichen Majestät brüllte sowohl Seine Kaiserliche Majestät als auch Seine Kaiserliche Hoheit an, und der Imperator und der Oberbefehlshaber rechtfertigten sich vor ihm.«
»Ausgeschlossen!« ächzte einer der Gendarmen.
»Still!« schnauzte der General. »Zuhören! Es hat sich herausgestellt, daß gegen vier Uhr nachmittags Sobolews Abteilung mit einem frontalen Stoß die Krischin-Redoute einnahm, zum südlichen Stadtrand von Plewna durchbrach und in den Rücken der türkischen Hauptkräfte gelangte, aber haltmachen mußte, weil sie zu wenig Bajonnette und Artillerie hatte. Sobolew schickte mehrere Kuriere los mit der Forderung nach Verstärkung, doch die wurden von den Baschi-Bosuks abgefangen. Um sechs konnte sich endlich Adjutant Surow mit fünfzig Kosaken zur Zentralgruppe durchschlagen. Die Kosaken kehrten zu Sobolew zurück, weil dort jeder Mann gebraucht wurde, und Surow ritt allein zum Hauptquartier. Sobolew wartete dringlich auf die Verstärkung, doch vergebens. Und das ist nicht erstaunlich, denn Surow kam nicht im Hauptquartier an, und vom Erfolg der linken Flanke wußten wir nichts. Am Abend verlegten die Türken ihre Truppen und warfen sich mit aller Macht auf Sobolew, er verlor einen Großteil seiner Männer und mußte sich vor Mitternacht auf seine Ausgangspositionen zurückziehen. Wir hatten Plewna schon in der Tasche! Frage an die Anwesenden: Wo kann Adjutant Surow abgeblieben sein - am hellichten Tag, mitten in unserer Stellung? Wer kann antworten?«
»Wahrscheinlich Oberstleutnant Kasansaki«, sagte Warja, und alle drehten sich zu ihr um.
Aufgeregt erzählte sie, was sie von MacLaughlin gehört hatte.
Nach einer längeren Pause wandte sich der Chef der Gendarmerie an Fandorin: »Ihre Schlußfolgerungen, Erast Petrowitsch?«
»Die Schlacht ist v-verloren, zum Haareraufen ist es zu spät, das sind Emotionen, die die Untersuchung behindern«, antwortete der Titularrat sachlich. »Zu tun ist folgendes. Das Territorium zwischen der Beobachtungsstelle der Presseleute und dem Hauptquartier wird in Quadrate eingeteilt. Erstens. Mit dem ersten S-sonnenstrahl wird jedes Quadrat durchkämmt. Zweitens. Falls die Leiche von Surow oder Kasansaki entdeckt wird, nichts berühren und die Erde rundum nicht zertrampeln - drittens. Für alle Fälle nach dem einen wie dem anderen in den Lazaretten unter den Schwerverwundeten suchen - viertens. Einstweilen ist nicht mehr zu t-tun, Lawrenti Arkadjewitsch.«
»Was für Mutmaßungen? Was soll dem Imperator gemeldet werden? Verrat?«
Fandorin seufzte. »Eher Diversion. Aber morgen wissen wir mehr.«
In der Nacht kamen sie nicht zum Schlafen. Es gab viel Arbeit: Die Mitarbeiter der Sonderabteilung teilten das Gebiet auf der Karte in Halbwerstquadrate ein und stellten die Suchtrupps zusammen. Warja klapperte die sechs Hospitäler und Lazarette ab und überprüfte die Offiziere, die in bewußtlosem Zustand eingeliefert worden waren. Sie bekam so Schreckliches zu sehen, daß sie gegen Morgen in eine sonderbare fühllose Benommenheit verfiel, aber sie fand weder Surow noch Kasansaki. Dafür sah sie unter den Verwundeten etliche Bekannte, auch Perepjolkin. Der Hauptmann hatte ebenfalls versucht, durchzubrechen und Hilfe zu holen, aber ein Baschi-Bosuk hatte ihm den Krummsäbel quer übers Schlüsselbein gezogen. Nun lag er im Bett, bleich, unglücklich, und seine braunen Augen blickten fast genauso wehmütig wie am unvergeßlichen Tag ihrer ersten Begegnung.