Warja stürzte zu ihm, doch er wandte sich ab und sagte nichts. Weshalb diese Abneigung?
Der erste Sonnenstrahl traf Warja auf der Bank vor der Sonderabteilung. Fandorin hatte sie fast mit Gewalt dorthin gesetzt und ihr befohlen, sich auszuruhen; sie lehnte sich an die Wand und sank in einen trüben, lastenden Halbschlaf. Alle Glieder schmerzten, ihr war schlecht - die Nerven, die schlaflose Nacht, kein Wunder.
Die Suchtrupps waren noch bei Dunkelheit zu ihren Quadraten aufgebrochen. Um viertel acht kam ein Kurier vom 14. Abschnitt angesprengt und lief ins Haus, und sofort kam, im Gehen den Rock zuknöpfend, Fandorin heraus.
»Kommen Sie, Warwara Andrejewna, Surow ist gefunden«, warf er kurz hin.
»Tot?« fragte sie aufschluchzend.
Fandorin gab keine Antwort.
Der Rittmeister lag mit dem Gesicht nach unten, den Kopf zur Seite gedreht. Schon von weitem sah Warja das Silberheft eines kaukasischen Dolchs, der in Surows linkem Schulterblatt steckte. Sie saß ab und erblickte sein Proficlass="underline" Das verwundert geöffnete Auge schimmerte in schönem Glanz, die von einem Schuß aufgerissene Schläfe zeigte eine schwarze Schmauchspur.
Warja schluchzte wieder tränenlos auf und wandte sich ab.
»Wir haben nichts angerührt, Herr Fandorin, wie befohlen«, meldete der Gendarm, der den Trupp führte. »Er hatte nur noch eine Werst bis zur Befehlsstelle. Hier ist eine Senke, darum hat ihn keiner gesehen. Und der Schuß - es war ja solch ein Geballer ... Das Bild ist klar: unerwarteter Dolchstoß in den Rücken. Dann mit der Kugel den Rest gegeben - Schuß aus nächster Nähe.«
»Na ja«, antwortete Fandorin vage und beugte sich über den Leichnam.
Der Offizier senkte die Stimme: »Der Dolch gehört Kasansaki, ich habe ihn gleich erkannt. Er hat ihn mir gezeigt und gesagt, es sei das Geschenk eines georgischen Fürsten.«
Darauf sagte Fandorin: »Großartig.«
Warja wurde noch schlechter, sie kniff die Augen zu, um die Übelkeit zu verscheuchen.
»Was ist mit H-hufspuren?« fragte Fandorin und hockte sich hin.
»Nichts. Sie sehen ja, den Bach entlang lauter Geröll und weiter oben alles zertrampelt - hier müssen gestern die Schwadronen durchgekommen sein.«
Der Titularrat richtete sich auf, stand einen Moment neben dem hingestreckten Körper. Sein Gesicht war ohne Regung und grau - passend zu den Schläfen. Dabei ist er gerade erst zwanzig, dachte Warja und zuckte zusammen.
»Gut, Oberleutnant. B-bringen Sie den Toten ins Lager. Kommen Sie, Warwara Andrejewna.«
Unterwegs fragte sie: »Ist Kasansaki wirklich ein türkischer Agent? Unglaublich! Natürlich ist er widerlich, aber trotzdem ...«
»Nicht in solchem Grad?« brummte Fandorin unfroh.
Kurz vor Mittag wurde auch Kasansaki gefunden, nachdem Fandorin angeordnet hatte, nochmals das Wäldchen und das Gestrüpp rund um die Stelle abzusuchen, wo der arme Surow getötet worden war.
Wie Warja später hörte (sie selbst war nicht mitgegangen), saß Kasansaki halb liegend hinter einem dichten Busch, mit dem Rücken an einen Feldstein gelehnt. In der Rechten hielt er einen Revolver, in der Stirn war ein Loch.
Die Beratung über die Untersuchungsergebnisse leitete Misinow persönlich.
»Ich muß vor allem sagen, daß ich mit den Arbeitsergebnissen des Titularrats Fandorin sehr unzufrieden bin«, begann der General mit einer Stimme, die nichts Gutes verhieß. »Erast Petrowitsch, direkt vor Ihrer Nase hat ein gefährlicher, raffinierter Feind agiert, der unserer Sache schwersten Schaden zufügte, und Sie haben ihn nicht enttarnt. Das war natürlich keine leichte Aufgabe, aber Sie
sind ja wohl kein Neuling. Was soll man, da von den einfachen Mitarbeitern der Sonderabteilung erwarten? Sie kommen aus irgendwelchen Gouvernementsverwaltungen und haben nur einfache Ermittlungsarbeit gemacht, doch bei Ihnen mit Ihren Fähigkeiten ist es unverzeihlich.«
Warja, die Hand gegen die schmerzende Schläfe gepreßt, warf einen Seitenblick auf Fandorin. Der wirkte gänzlich unerschütterlich, doch seine Wangen (außer Warja würde das niemand bemerkt haben) färbten sich schwach rosa - die Worte des Chefs hatten ihn wohl tief getroffen.
»Also, meine Herren, was haben wir? Wir haben eine in der Weltgeschichte einmalige Konfusion. Den Geheimdienst der Westgruppe, der wichtigsten Einheit der ganzen Donau-Armee, hat ein Verräter geleitet.«
»Kann das als gesichert gelten, Hohe Exzellenz?« fragte der ranghöchste Gendarmerieoffizier zaghaft.
»Urteilen Sie selbst, Major. Nun, daß Kasansaki griechischer Herkunft ist und unter den Griechen viele türkische Agenten sind, das ist natürlich noch kein Beweis. Aber erinnern Sie sich bitte, daß in Lucans Notizen ein geheimnisvoller J. vorkommt. Jetzt ist klar, daß dieser J >Gendarm< bedeutet.«
»Aber >Gendarm< schreibt sich doch mit G«, beharrte der Major mit dem grauen Schnauzbart.
»Französisch >gendarme<, ja, aber rumänisch >jandarm<«, erklärte der hohe Vorgesetzte gönnerhaft. »Kasansaki war es, der den rumänischen Oberst an Fäden tanzen ließ. Weiter. Wer stürzte hinter Surow her, als der die Nachricht überbringen wollte, von der der Ausgang der Schlacht und womöglich des ganzen Krieges abhing? Kasansaki. Weiter. Mit wessen Dolch wurde Surow getötet? Mit Kasansakis. Weiter. Ja, was weiter? Als der Mörder den Dolch nicht aus dem Schulterblatt seines Opfers herausziehen konnte, begriff er, daß er den Verdacht gegen sich nicht würde entkräften können, und erschoß sich. Übrigens fehlen in der Trommel seines Revolvers genau zwei Patronen.«
»Aber ein feindlicher Spion würde sich doch nicht umbringen, sondern versuchen zu entkommen«, warf der Major wieder zaghaft ein.
»Wohin denn bitte? Die Feuerlinie konnte er nicht überqueren, und in unserm Hinterland wäre er schon heute zur Fahndung ausgeschrieben worden. Bei den Bulgaren konnte er sich nicht verstecken, zu den Türken sich nicht durchschlagen. Besser die Kugel als der Galgen, da hatte er recht.
Außerdem war Kasansaki kein Spion, sondern ein Verräter. Nowgorodzew«, rief der General seinen Adjutanten. »Wo ist der Brief?«
Der Adjutant nahm ein zweimal gefaltetes schneeweißes Blatt Papier aus einem Aktendeckel.
»In der Jackentasche des Selbstmörders gefunden«, erklärte Misinow. »Lesen Sie vor, Nowgorodzew «
Der Adjutant warf einen zweifelnden Blick auf Warja.
»Lesen Sie, lesen Sie«, drängte der General. »Wir sind hier kein Mädchenstift, und Frau Suworowa ist Mitglied der Untersuchungsgruppe.«
Nowgorodzew räusperte sich, lief rot an und begann vorzulesen.
»>Lieber Wantschik-Charitontschik, mein Herzblatt ...< Das ist so falsch geschrieben, meine Herren«, warf der Adjutant ein, »ich lese, wie es da steht. Hm. >... mein Herzblatt. Ein Leben ohne dich ist so daß Hand an mir legen besser ist wie so ein Leben. Du hast mir geküßt und gekost und ich dir aber das gemeine Schicksal hat neidisch zugesehn und das Messer in Hand gehalten. Ohne dich bin ich Staub und Dreck. Bitte komm bald zurück. Aber wenn du in dein lausiges Kischinjow statt Besso einen anderen findest, komm ich hin, und bei meiner Mutter, ich schlitz ihm den Bauch auf. Tausend Jahre Dein Wildkatz.<«
»Dein oder deine?« fragte der Major.
»Nicht deine, eben dein.« Misinow lächelte schief. »Das ist es ja eben. Bevor Kasansaki an die
Gendarmerieverwaltung Kischinjow versetzt wurde, diente er in Tiflis. Wir haben sofort eine Anfrage hingeschickt, und die Antwort ist schon da. Lesen Sie das Telegramm vor, Nowgorodzew.«
Der Adjutant las das neue Papier mit sichtlich größerem Vergnügen vor als den Liebeserguß.
»An Seine Hohe Exzellenz Generaladjutant L. A. Misinow als Antwort auf die Anfrage vom 31. August, eingegangen um 1.52 Uhr mittags. Höchst dringend. Höchst geheim.