Ich melde, daß der Oberstleutnant Iwan Kasansaki sich während seines Dienstes in der Tifliser Gendarmerieverwaltung von Januar 1872 bis September 1876 als tüchtiger, energischer Mitarbeiter bewährt und keine offiziellen Rügen erhalten hat. Im Gegenteil, er bekam für untadeligen Dienst den St.-Stanislaw-Orden dritter Klasse und zwei Dankurkunden vom Kaukasus-Statthalter S.K. Hoheit. Allerdings hatte er nach einer im Sommer 1876 eingegangenen Agentenmeldung absonderliche Vorlieben und stand wohl sogar in einer widernatürlichen Beziehung zu dem bekannten Tifliser Päderasten Fürst Wissarion Schalikow, genannt Wildkatz Besso. Ich hätte solch unbewiesenem Tratsch keine Bedeutung beigemessen, aber in Erwägung, daß Oberstleutnant Kasansaki ungeachtet seines reifen Alters Junggeselle ist und bei ihm nie Kontakte mit Frauen wahrgenommen wurden, habe ich eine verdeckte interne Ermittlung anstellen lassen. Es wurde festgestellt, daß Oberstleutnant Kasansaki in der Tat mit Wildkatz bekannt ist, doch intime Beziehungen wurden nicht bestätigt. Gleichwohl habe ich es für gut befunden, Oberstleutnant Kasansaki in eine andere Verwaltung versetzen zu lassen, ohne Folgen für seine Dienstliste.
Chef der Tifliser Gendarmerieverwaltung Oberst Pantschulidsew «
»So ist das«, resümierte Misinow bitter. »Er entledigt sich eines zweifelhaften Mitarbeiters und verschweigt seinen Vorgesetzten den Grund. Unter dem Resultat hat nun die ganze Armee zu leiden. Wegen des Verrats von Kasansaki lungern wir zwei Monate vor diesem verdammten Plewna und haben keine Ahnung, wie lange es noch dauert! Der allerhöchste Namenstag ist verdorben! Der Imperator hat heute von Rücktritt gesprochen, können Sie sich das vorstellen?« Er schluckte krampfhaft. »Drei mißglückte Sturmangriffe, meine Herren! Drei! Erinnern Sie sich, Erast Petrowitsch, wie Kasansaki den ersten Befehl über die Einnahme Plewnas in die Chiffrierabteilung brachte? Ich kann mir nicht vorstellen, wie er es fertigkriegte, >Plewna< durch >Nikopol< zu ersetzen, aber der Judas hat eindeutig dabei die Hand im Spiel gehabt.«
Warja zuckte zusammen und dachte, daß sich für Petja nun ein Lichtschein auftat. Der General aber fuhr mümmelnd fort: »Den Oberst Pantschulidsew lasse ich zur Lehre für andere Schweiger natürlich vor Gericht stellen, und ich werde seine vollständige Degradierung durchsetzen, aber sein Telegramm ermöglicht es uns, die ganze Kette deduktiv wiederherzustellen. Hier ist alles ziemlich einfach. Die türkischen Agenten, von denen es im Kaukasus wimmelt, haben sicherlich von Kasansakis geheimem Laster erfahren, und der Oberstleutnant wurde mittels Erpressung angeworben. Immer wieder dieselbe Geschichte, so alt wie die Welt. >Wantschik-Charitontschik<! Pfui Deiwel! Wenn er's wenigstens für Geld gemacht hätte!«
Warja wollte eben den Mund öffnen, um für die Anhänger der gleichgeschlechtlichen Liebe ein Wort einzulegen, die letzten Endes nichts dafür konnten, daß die Natur sie anders als die anderen geschaffen hatte, aber da stand Fandorin auf.
»Erlauben Sie mir einen Blick auf den Brief«, bat er, drehte den Brief in den Händen, fuhr mit dem Finger über den Knick und fragte: »Wo ist das K-kuvert?«
»Erast Petrowitsch, ich muß mich über Sie wundern.«
Der General breitete die Arme aus. »Kuvert? Solche Briefe werden doch nicht mit der Post geschickt.«
»Der hat in seiner Innentasche gesteckt? Na ja.« Fandorin setzte sich wieder.
Misinow zuckte die Achseln.
»Sie machen besser folgendes, Erast Petrowitsch. Ich kann nicht ausschließen, daß der Verräter außer Oberst Lucan noch jemanden angeworben hat. Ihre Aufgabe ist es, herauszufinden, ob es im Stab oder drumherum noch weitere Drachenzähne gibt. Major«, sagte er zu dem ranghöchsten Offizier, der sprang auf und nahm Haltung an. »Ich ernenne Sie zum vorläufigen Chef der Sonderabteilung. Die Aufgabe ist die gleiche. Dem Titularrat wird jegliche Unterstützung gegeben.«
»Zu Befehl!«
Es klopfte.
»Erlauben Euer Hohe Exzellenz?« Ein Kopf mit blauer Brille schob sich durch den Türspalt.
Warja wußte, daß es der Sekretär Misinows war, ein stiller kleiner Beamter mit einem Namen, den man nicht behalten konnte, er war nicht beliebt und wurde gefürchtet.
»Was gibt's?« fragte der Chef der Gendarmerie aufhorchend.
»Ein außergewöhnliches Ereignis auf der Hauptwache. Der Kommandant hat gemeldet, bei ihm hätte sich ein Arrestant aufgehängt.«
»Sie sind ja verrückt, Pschebyschewski! Ich habe eine wichtige Beratung, und Sie kommen mir mit solchem Unsinn!«
Warja griff sich ans Herz, und im nächsten Moment sagte der Sekretär die Worte, die zu hören sie am meisten gefürchtet hatte: »Es ist der Chiffrierer Jablokow, der sich aufgehängt hat. Er hat einen Brief hinterlassen, in dem ein direkter Bezug ... Darum habe ich mich erkühnt ... Aber wenn ich unpassend komme, bitte ich um Entschuldigung und gehe wieder.« Der Beamte zog beleidigt die Nase hoch und machte Miene, hinter der Tür zu verschwinden.
»Her den Briefl« brüllte der General. »Auch der Kommandant soll kommen.«
Warja verschwamm alles vor den Augen. Sie versuchte aufzustehen, doch es gelang nicht, eine merkwürdige Erstarrung hielt sie fest. Sie sah den über sie gebeugten Fandorin und wollte ihm etwas sagen, doch sie bewegte nur kläglich die Lippen.
»Jetzt ist klar, wie Kasansaki den Befehl manipuliert hat!« rief Misinow, während er den Brief überflog. Hören Sie. >Wieder Tausende von Toten, und alles durch meine Unachtsamkeit. Ja, ich bin schuldig und will nicht mehr leugnen. Ich habe einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen - ich habe auf dem Schreibtisch den chiffrierten Befehl über die Einnahme von Plewna liegenlassen und mich in einer persönlichen Angelegenheit entfernt. In meiner Abwesenheit hat jemand in der Depesche das eine Wort geändert, und ich habe sie dann weggebracht, ohne sie nochmals angesehen zu haben. Ha-ha, der wahre Retter der Türkei ist nicht Osman Pascha, sondern ich bin es, Pjotr Jablokow Bemühen Sie sich nicht um meinen Fall, meine Herren Richter, ich habe mir selbst das Urteil gesprochen.< Wie einfach! Während der Junge seiner Angelegenheit nachging, hat Kasansaki rasch die Depesche verändert, eine Sache von einer Minute!«
Der General zerknüllte den Brief und schleuderte ihn zu Boden, zu Füßen des strammstehenden Kommandanten der Hauptwache.
»Er ... Erast Pe ... trowitsch, was ist ...?« stammelte Warja mühsam. »Petja!«
»Hauptmann, was ist mit Jablokow? Ist er tot?« fragte Fandorin den Kommandanten.
»Von wegen, die können doch keine Schlinge zuziehen«, knurrte der. »Man hat ihn runtergeholt und beatmet ihn!«
Warja stieß Fandorin weg und stürzte zur Tür, prallte gegen den Rahmen, lief hinaus auf die Vortreppe und war geblendet von der grellen Sonne. Sie mußte stehenbleiben. Neben ihr war schon wieder Fandorin.
»Warwara Andrejewna, beruhigen Sie sich, es ist ja gutgegangen. Gleich gehen wir zusammen hin, aber beruhigen Sie sich erst mal, Sie sind ja ganz blaß.«
Er nahm sie behutsam am Ellbogen, aber diese taktvolle Berührung löste bei ihr einen Anfall
unerträglichen Abscheus aus. Sie beugte sich tief hinunter und übergab sich direkt auf Fandorins Stiefel. Danach setzte sie sich auf eine Stufe und versuchte zu begreifen, warum die Erde schräg war und doch niemand herunterrutschte.
Auf ihre Stirn legte sich etwas Angenehmes, Eiskaltes, und sie stöhnte sogar vor Vergnügen.
»Eine schöne Geschichte«, sagte Fandorin dumpf. »Das ist ja Typhus.«
ZEHNTES KAPITEL,
in welchem dem Imperator ein goldener Säbel überreicht wird
»Daily Post« (London)
vom 9. Dezember(27. November) 1877
»Seit zwei Monaten wird die Belagerung von Plewna faktisch von dem alten und erfahrenen General Totleben geleitet, den die Briten vom Sewastopoler Feldzug her in guter Erinnerung haben. Totleben, nicht so sehr Heerführer wie Ingenieur, verzichtete auf die Taktik der Frontalangriffe und unterwarf die Armee von Osman Pascha einer regelrechten Blockade. Die Russen verloren wertvolle Zeit, wofür Totleben scharf kritisiert wurde, aber heute muß eingeräumt werden, daß der vorsichtige Ingenieur recht hatte. Seit die Türken vor einem Monat endgültig von Sofia abgeschnitten wurden, kam es in Plewna zu Hunger und Munitionsknappheit. Totleben wird immer öfter ein zweiter Kutusowgenannt (der russische Feldmarschall erschöpfte die Kräfte Napoleons 1812 endlosen Rückzug - Anm. d. Redaktion). Die Kapitulation Osmans und seines Fünfzigtausend-Mann-Heers wird täglich erwartet.«