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An einem scheußlich kalten Tag (grauer Himmel, eisiger Nieselregen, schmatzender Schlamm) kehrte Warja mit einem Mietkutscher ins Militärlager zurück. Einen ganzen Monat hatte sie im Seuchenspital zu Tirnowo gelegen, und sie hätte durchaus sterben können, denn am Typhus starben viele, aber sie überstand die Krankheit. Danach verging sie weitere zwei Monate vor Langeweile, während sie wartete, daß ihre Haare nachwuchsen - sie konnte ja nicht wie ein geschorener Tatare zurückfahren. Die verdammten Haare wuchsen langsam, und sie lagen auch jetzt noch nicht, sondern standen borstig hoch. Das sah gräßlich aus, aber sie war mit ihrer Geduld am Ende - noch eine Woche Untätigkeit, und sie wäre verrückt geworden beim Anblick der buckligen Sträßchen in dem zuwider gewordenen Kaff.

Einmal hatte sie sich aufgerafft, Petja zu besuchen. Er galt noch immer als Untersuchungshäftling, saß aber nicht mehr in der Hauptwache, sondern ging zum Dienst - die Armee war angewachsen, und es fehlte an Chiffrierern. Er sah sehr verändert aus: hatte sich ein dünnes Bärtchen wachsen lassen, das überhaupt nicht zu ihm paßte, war abgemagert, und jedes zweite Wort bei ihm war Gott oder der Dienst am Volk. Am meisten erschütterte sie, daß ihr Bräutigam sie beim Wiedersehen auf die Stirn küßte. Wirkte sie auf ihn wie eine Tote im Sarg? War sie dermaßen häßlich geworden?

Die Tirnowoer Chaussee war von Fuhrwerken verstopft, und die Kutsche kam kaum voran, darum befahl Warja als Kennerin dieser Gegend dem Kutscher, in einen Feldweg einzubiegen, der nach Süden führte, und das Lager zu umfahren. Das war zwar weiter, dafür ging es schneller.

Auf dem leeren Weg trabte das Pferd flotter, und der Regen hatte fast aufgehört. Noch ein, zwei Stündchen, und sie war zu Hause. Warja prustete. Von wegen »zu Hause«! Ein feuchtes Zelt, durch

das der Wind pfiff!

Hinter Lowetsch kamen ihr vereinzelt Reiter entgegen, meist Furiere und geschäftige Ordonnanzen, und dann sah sie den ersten Bekannten.

Eine schlaksige Gestalt mit Melone und langem Gehrock saß ungeschickt auf einer mißmutigen rötlichen Stute - kein Zweifel, MacLaughlin! Es war ein Deja-vu-Erlebnis: Als sie während des dritten Sturmangriffs auf Plewna ins Militärlager zurückkehrte, war ihr unterwegs auch der Ire begegnet. Nur war es damals heiß gewesen, und jetzt war es kalt, und sie hatte damals wahrscheinlich besser ausgesehen.

Es war sehr günstig, daß sie gerade MacLaughlin als ersten traf. Er war ein geradliniger Mensch ohne Hintergedanken, an seiner Reaktion würde sie gleich erkennen, ob sie sich mit diesen Haaren in Gesellschaft zeigen konnte oder lieber gleich umkehrte. Auch würde sie Neuigkeiten erfahren.

Warja nahm tapfer den Hut ab und entblößte die schmählichen Borsten. Nun würde sie sehen.

»Mister MacLaughlin!« schrie sie und erhob sich vom Sitz, als die Kutsche mit ihm auf gleicher Höhe war. »Ich bin's! Wo reiten Sie hin?«

Der Ire wandte sich um und lüpfte die Melone.

»Oh, Mademoiselle Warja, ich freue mich sehr, Sie bei guter Gesundheit zu sehen. Hat man Sie aus hygienischen Gründen so kurz geschoren? Sie sind ja nicht wiederzuerkennen.«

Warja spürte innerlich einen Stich.

»Was, so schlimm?« fragte sie mit erloschener Stimme.

»Keineswegs«, beteuerte MacLaughlin eilig. »Aber Sie sehen noch jungenhafter aus als bei unserer ersten Begegnung.«

»Haben wir den gleichen Weg?« fragte sie. »Dann steigen Sie bei mir ein, wir können ein bißchen plaudern. Ihr Pferd macht keinen besonders guten Eindruck.«

»Gräßliche Mähre. Meine Bessy hat sich mit einem Dragonerhengst eingelassen und ist trächtig, sieht aus wie eine Tonne. Der Pferdewärter Frolka mag mich nicht, weil ich ihm prinzipiell kein Trinkgeld gebe, und dreht mir solche Gäule an. Wo er die nur herkriegt! Dabei habe ich's eilig in einer sehr wichtigen geheimen Angelegenheit.«

MacLaughlin verstummte vielsagend, und es war zu sehen, daß das wichtige Geheimnis aus ihm herausdrängte. Da der Ire sonst immer zurückhaltend war, mußte er in der Tat etwas aus dem Rahmen Fallendes erfahren haben.

»So setzen Sie sich doch für ein Minütchen zu mir«, sagte Warja einschmeichelnd. »Lassen Sie das unglückliche Tier etwas ausruhen. Ich habe hier Kuchen mit Marmelade und eine Kanne Kaffee mit Rum.«

MacLaughlin zog die Uhr am silbernen Kettchen aus der Tasche.

»Half past seven ... Another forty minutes to get there ... All right, an hour. It'll be half past eight« (* (engl.) Halb sieben ... Noch vierzig Minuten, um dorthin zu kommen... Gut, eine Stunde. Um halb neun.), murmelte er in seinem unverständlichen Idiom und seufzte. »Nun gut, ein Minütchen. Ich fahre mit Ihnen bis zur Weggabelung, dort biege ich ab nach Petirnizy.«

Er band die Zügel an die Kutsche und setzte sich neben Warja. Ein Stück Kuchen verschlang er im Ganzen, vom zweiten biß er die Hälfte ab und trank dazu mit Genuß einen Schluck heißen Kaffee.

»Was wollen Sie dort?« fragte Warja lässig. »Treffen Sie wieder Ihren Plewnaer Informanten?«

MacLaughlin sah sie prüfend an und richtete die vom Kaffeedampf beschlagene Brille.

»Geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie es niemandem erzählen, zumindest nicht vor zehn«, verlangte er.

»Ehrenwort«, sagte Warja sogleich. »Was ist das für eine Neuigkeit?«

Die Leichtigkeit, mit der das Versprechen gegeben wurde, ließ den Iren zaudern, er schnaufte, aber zum Rückzug war es zu spät, und er wollte sich wohl auch sehr gern mitteilen.

»Heute, der zehnte Dezember, nach Ihrem Kalender der achtundzwanzigste November 1877, ist ein historischer Tag«, begann er feierlich und wechselte zum Flüstern. »Aber das weiß im ganzen russischen Lager nur ein Mensch - meine Wenigkeit. Oh, MacLaughlin gibt kein Trinkgeld dafür, daß jemand seine Pflicht tut, aber für gute Arbeit bezahlt MacLaughlin gut, das können Sie mir glauben. Schluß, darüber kein Wort mehr!« Mit erhobener Hand wehrte er die Frage ab, die Warja von der Zunge wollte. »Meinen Informanten nenne ich Ihnen nicht. Ich sage nur, daß er mehrmals erprobt wurde und mich nie hereingelegt hat.«

Warja erinnerte sich, daß einer der Journalisten neidisch gesagt hatte, der Korrespondent der »Daily Post« bekomme von einem Bulgaren Informationen über die Vorgänge in Plewna, vielleicht sogar von einem türkischen Offizier. Das hatte kaum jemand geglaubt. Aber vielleicht stimmte es?

»Reden Sie schon, spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

»Denken Sie daran, vor zehn zu niemandem ein Wort. Sie haben Ihr Ehrenwort gegeben.«

Warja nickte ungeduldig. Diese Männer mit ihren dämlichen Ritualen! Natürlich würde sie es niemandem sagen.

MacLaughlin beugte sich zu ihrem Ohr.

»Heute abend kapituliert Osman Pascha.«

»Was Sie nicht sagen!« rief Warja.

»Nicht so laut! Punkt zehn werden beim Kommandeur des Grenadierkorps, Generalleutnant Ganezki, dessen Truppen am linken Ufer des Flusses Wid stehen, Parlamentäre erscheinen. Ich werde der einzige Journalist sein, der diesem großen Ereignis beiwohnt. Und ich will, nicht vor halb zehn, den General informieren, damit nicht ein Vorposten das Feuer auf die Parlamentäre eröffnet. Können Sie sich vorstellen, was das für einen Artikel gibt?«